Sigmund Freud und die „geistige Wende“

libidoWenn wir in die Zeit um die Jahrhundertwende des vergangenen Jahrhunderts zurückschauen, können wir nach drei Seiten hin mächtige kulturelle und gesellschaftliche Impulse erleben.

Der erste große Impuls wirkte sich in der Kunstszene aus. Der Impressionismus und später der Expressionismus sind wichtige Zeugen davon. Eine zweite große Welle entstand als ein anderer mächtiger gesellschaftlicher Impuls in der Psychoanalyse. Namen wie Sigmund Freud und später C.G. JungAlfred Adler, und andere; sie trugen ebenfalls zu einer weitreichenden und wichtigen Entwicklung bei. Der dritte große Impuls schließlich war spiritueller Art und verwirklichte sich u.a. in der theosophischen Bewegung und etwas später durch die aus dieser heraus entstehenden anthroposophischen Bewegung.

Alle drei Impulse standen einander – nicht inhaltlich, aber zeitlich – sehr nahe. Die Aufbruchstimmung jener Zeit war auch gleichzeitig eine Bewusstseins-Revolution. Das florierende Industriezeitalter war über seinen Zenit gelangt und die Menschen standen vor ähnlich grundlegenden Fragen wie heute. Sigmund Freud und die Psychoanalyse waren eine Revolution in instabilen wirtschaftlichen Verhältnissen. Der erste Weltkrieg und die darauf folgende globale große Krise der Dreißiger veränderten die Strukturen der Gesellschaft von Grund auf.

C.G. Jung, damals ein wichtiger Schüler und Freund Sigmund Freuds, schrieb in seinem Buch: „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ über Freud folgendes: „Vor allem schien mir Freuds Einstellung zum Geist in hohem Maße fragwürdig. Wo immer bei einem Menschen oder in einem Kunstwerk der Ausdruck einer Geistigkeit zutage trat, verdächtigte er sie und ließ «verdrängte Sexualität» durchblicken. Was sich nicht unmittelbar als Sexualität deuten ließ, bezeichnete er als «Psychosexualität». Und an anderer Stelle heißt es: „Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud zu mir sagte: «Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.» Das sagte er zu mir voll Leidenschaft und in einem Ton, als sagte ein Vater: «Und versprich mir eines, mein lieber Sohn: geh jeden Sonntag in die Kirche!» Etwas erstaunt fragte ich ihn: «Ein Bollwerk – wogegen?» Worauf er antwortete: «Gegen die schwarze Schlammflut -» hier zögert er einen Moment, um beizufügen: «des Okkultismus.» Zunächst war es das «Bollwerk» und das «Dogma», was mich erschreckte; denn ein Dogma, d. h. ein indiskutables Bekenntnis, stellt man ja nur dort auf, wo man Zweifel ein für alle Mal unterdrücken will. Das hat aber mit wissenschaftlichem Urteil nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit persönlichem Machttrieb“.
Für C.G. Jung war diese Begegnung ein „…ein Stoß, der ins Lebensmark unserer Freundschaft traf“. So eng die Freundschaft dieser beiden Größen auch war, so verschieden war ihre Auffassung der Libido-Theorie, wie sie von Freud als „Bollwerk“ gegen die „Schlammflut des Okkultismus“ proklamiert wurde. Was hat nun aber diese Auffassung Freuds für Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein?

Freud reduziert den Menschen auf die eine, allmächtige Urkraft der Libido. Für ihn gab es keine spirituelle Entwicklung, wie sie z.B. von C.G. Jung angestrebt wurde. Es gab für ihn auch nie so etwas, wie keine höhere, „göttliche Kraft“ im Menschen. Alles, was in ihm zum Ausdruck gebracht wurde, war die pure Energie der Sexualität. Die gesamte psychische Struktur eines Menschen findet, nach Freud, dort ihren Ursprung.

Das atheistische, auf rein physikalische Vorgänge reduzierte Menschenbild ist die Grundkraft für viele andere, auch neuere Anschauungen geworden. Sie zeigen sich auch heute wieder in der bildenden und in der darstellenden Kunst. Man wird den Eindruck nicht los, dass selbst die großen Klassiker des Theaters von Goethe, Shakespeare oder Schiller usw. im Wesentlichen auf eine psychosexuelle Ebene reduziert werden.

Freud hat aber mit seiner Libido-Theorie auch noch andere gesellschaftliche Auswirkungen zu verantworten. Wie soll unter diesen Vorzeichen die Sinnfrage für ein neues Bewusstsein oder auf die Selbst-Reflexion hin beantwortet werden und damit Anreiz für eine persönliche innere Entwicklung jedes Einzelnen angestrebt werden, wenn solche innere Entwicklung bloß auf die sexuelle Energie reduziert wird? Doch die Zeichen häufen sich, dass die Werte wieder tiefer greifen und der spirituelle Hintergrund des Daseins einen neuen, gesünderen und sozialeren Aufschwung erfährt. Nicht zuletzt die Quantenphysik und die moderne, neurologische Forschung stellen vieles unter ein neues Licht. Die Wurzeln unserer Herkunft, welche für Freud noch an die engen Ketten der Sexualität und des Ödipus gebunden waren und sich nur auf die Kindheit ausgerichtet haben, werden von neuem Bewusstsein freigelegt und neu definiert.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Osterglocken im Faust

mephistoDu gleichst dem Geist, den Du begreifst…!
(…und diesen nur wirst Du anbeten!)

Kennen Sie den Faust, Goethes „Faust“? Er ist ein wahres Wunderwerk inneren Lebens. Man stelle sich dieses Bild vor: Faust sitzt in seiner „staubigen Wissenswelt“, in seinem Keller, der ihm als Arbeitsraum dient. Er ist gefüllt mit all den Dingen, die er  in seinem bisherigen Leben gelernt und gelebt hat, eine trockene Welt! Und er beginnt daran zu zweifeln…

Er habe, so sagt er mit einem stöhnenden „Ach!“, Philosophie, Juristerei, Medizin und sogar Theologie studiert! Und er bekennt konsterniert: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug, als wie zuvor!“ Faust spürt, daß alles Wissen dieser Welt für seine innere Entwicklung keinerlei Bedeutung mehr hat. Er spürt eine vollkommene Leere, ein ausgetrocknetes Herz. Das ist der Punkt, an dem wir heute bewusst stehen! Manche sind taub dafür und rennen weiterhin dem äußeren Anhäufen von Wissen, dem Schein nach Glück nach, in der Hoffnung, dort „die große Erkenntnis“, die „unumstößliche Wahrheit“ zu finden. Goethes Faust drückt dieses innere Erlebnis so aus:

„Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel – dafür ist mir auch alle Freud entrissen, bilde mir nicht ein, was rechts zu wissen, bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren.“

Faust beginnt, an allem zu zweifeln, was ihn umgibt. Er zweifelt an der Welt und er zweifelt an sich selbst. Er ist an dem Punkt angelangt, an welchem er im Grunde nur noch sterben möchte – oder – sich der Selbsterkenntnis zu widmen. Das erste ist ihm nah, das zweite fern. Er schreit es hinaus:

„Weh, steck ich in dem Kerker noch? Verfluchtes, dumpfes Mauerloch, wo selbst das liebe Himmelslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht! Beschränkt von diesem Bücherhauf, den Würmer nagen, Staub bedeckt, den, bis ans hohe Gewölb hinauf, ein angeraucht Papier umsteckt; mit Gläsern, Büchsen, rings umstellt, mit Instrumenten vollgepfropft, Urväter Hausrat dreingestopft – das ist deine Welt! Das heißt deine Welt?“

Das Menschenbild, welches Goethe hier am Faust entwickelt, ist der innere Zustand, der, mehr als früher noch, innigst nachempfunden werden kann; es ist der Abgrund, an dem so mancher heute steht. Die Wende, die kommen muß, ist eine Wende nach innen, in die eigene Seele, zur Freiheit. Auch Faust versucht dies. Er ist immerhin Wissenschaftler von hohem Rang und Namen, ein gebildeter Mensch also, der viel Erfahrung hat und viel weiß, doch dies Eine nicht: „Was die Welt im Innersten zusammenhält“!

Deshalb ergibt er sich, wie er so schön sagt… der Magie! Aber er bemerkt nicht, daß er versucht, den Geist in der gleichen Weise zu erfassen, wie er früher all sein Wissen erfasst hat. Er liest in den heiligen Schriften, der Bibel und in anderen Büchern der Magie und versucht deren Zeichen zu deuten! Aus diesem Erlebnis heraus findet er schließlich Zugang zu einem „geistigen Wesen“ (in sich), mit welchem er in einen Dialog kommt: Dieser Geist spricht nun zu ihm: „Du hast mich mächtig angezogen, an meiner Sphäre lang gesogen, und nun – „ Faust erträgt seine Stimme nicht…er verabscheut sein Antlitz…

Und der Geist spricht weiter: “Du flehst eratmend, mich zu schauen, meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehen; mich neigt dein mächtig Seelenflehen. Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen fasst Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf? Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf und trug und hegte, die mit Freudebeben erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben? Wo bist du, Faust, des Stimme mir erklang? Bist DU es, der von meinem Hauch umwittert, in allen Lebenstiefen zittert, ein furchtsam weggekrümmter Wurm?“

Faust ergibt sich nicht, er (sein Ego) wähnt sich seinesgleichen! Er meint – noch selbstbewusst – er habe Anteil an diesem Geistwesen und sei ihm ebenbürdig! Und er meint, er sei ihm in seinem Kern nah! Doch der innere Geist widerspricht: “Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!“
Faust hatte versucht, sich mit seinem Verstandesbewusstsein an etwas anzunähern, was er „geistig“ nannte. Er konnte noch nicht begreifen, daß die Vorstellungen, die er sich aus diesem Bewußtsein heraus gebildet hatte, seine Erkenntnis leitete und gleichzeitig vernebelte und verfälschte. Das ist der Grund, weshalb ihm dieses Wesen begegnete und ihm als Fremder gegenüberstand. Es war ein verzerrtes Abbild seiner Selbst! Er konnte es nicht ertragen in sein Antlitz zu schauen. Die Begegnung gleicht dem Erlebnis mit dem „Hüter der Schwelle“, welcher ihn zurückweist in seine eigene Welt: Der Welt des Verstandes, der alles nur intellektuell begreifen will.

Das trifft Faust hart. Er bricht zusammen und spricht als Antwort auf dieses Geistwesen (in ihm): „Nicht dir (gleich ich…)? Wem denn? Ich! Ebenbild der Gottheit! Und nicht einmal dir!?“
In diesem Augenblick steht sein Diener Wagner schon an der Tür und reißt ihn wieder in den Alltag zurück! Dieser hörte ihn „proklamieren“ und möchte vom Wissen des Herrn Doktor profitieren!
Nebenbei gesagt: Wie viele möchten vom Wissen der Herren Doktoren profitieren!
Wie viele Zweifel stehen an dieser „Schwelle“, übertragen wir die Geschichte nun auf unser eigenes Leben. Sie reißen uns hinweg, aus dem Leben… oder besser gesagt: in die psychopathischen Kompensationen!
Auch uns steht dieses freudsche „Es“ des Verstandes immer wieder im Wege. Es nimmt Besitz von uns und führt uns von einer Lebenssituation zur anderen, agierend und reagierend.

Faust erlebt seine Innenwelt nun stärker, verweilt darin und erkennt deren verschiedene Aspekte (die „Teilselbste“) in ihm, und er spricht:

„Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, dort wirket sie geheime Schmerzen, unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh; sie deckt sich stets mit neuen Masken zu, sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen, als Feuer, Wasser, Dolch und Gift; du bebst vor allem, was du nie verlierst, das musst du stets beweinen.“

Und in tiefstem Gram, am Ende seines „Lateins“, als nur noch der Tod als Lösung vor ihm steht…
Da erklingen die Osterglocken des Dorfes und der Gesang erhebt sich:

„Christ ist erstanden Freude am Sterblichen Den die Verderblichen Schleichenden, erblichen Mängel umwanden.
Christ ist erstanden Selig der Liebende, Der die betrübende, Heilsam und übende Prüfung bestanden“
(…aus Goethe Faust 1. Teil)

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Eigene Geschichte als Spiegel der Weltgeschichte

kunstgruppeDie Geschichte der Menschheit ist ein Spiegel unserer eigenen Geschichte. Sie wiederholt sich seit Jahrtausenden in immer gleicher Art und Weise von neuem, Millionenfach, in jedem Menschen. Erst wenn wir beginnen, sie zu ahnen, erwachen wir aus dem Tiefschlaf immerwährender Kriege und Schlachten, ewigem Zwiespalt und Feindschaften.

Du kommst auf diese Welt und erfährst im Laufe der Jahre, die Du durchschreitest bis zu Deinem jetzigen Moment, tausende und abertausende von Situationen. Zeitpunkt und Ort Deiner Geburt prägen zudem Deine Eindrücke und Wahrnehmungen. Umstände legen sich an Deine Seite, Bedingungen, die Du zunächst weder beeinflussen, noch verändern kannst. Das ganze daraus entstehende Gebilde nennen wir unsere Persönlichkeit. Du bildest aus all diesen Facetten und Bildern Deine eigenen Vorstellungen und Gedanken. Das ganze daraus entstehende emotionale Gefüge lässt in Dir den „Motor“ von Sympathie und Antipathie aufleben. Du beginnst, die Dinge der Welt unterschiedlich zu gewichten und zu beurteilen. Du liebst dieses und hasst jenes.

Sowohl Freude und Begeisterung wie Ablehnung und Widerwillen, prägen fortan Deinen Charakter. Du beziehst daraus Deine Belohnungen, an denen Du Dich klammerst, genauso wie Deine Niederlagen, an denen Du wächst und reifst. So werden in Dein Seelenleben Werte implantiert. Sie befestigen sich zunehmend. Lob und Tadel haben dabei zweierlei Wirkung. Sie beflügeln Dich im einen Fall, geben Dir Bestätigung für Dein Tun und Handeln und öffnen Dir die Türen zu Gleichgesinnten. Tadel kann je nach dem in beide Richtungen wirken. Entweder es wird im Sinne eines Angriffs verteidigt und dadurch zusätzlich gefestigt oder es treten Zweifel auf, die zum Wandel führen. Letzteres vor allem dann, wenn man im eigenen Standpunkt noch schwankt.

Aus der Dynamik dieser Schwankungen, diesem Hin- und Her der Gefühle und Emotionen, welche vor allem im jugendlichen Alter, aber auch später noch, stattfinden, gewinnen wir Festigkeit und Stabilität in der eigenen Meinung. Ein Gefühl von innerer Sicherheit entsteht nach und nach. Wir suchen Gemeinschaften auf, politische, künstlerische, soziale oder religiöse usw., die uns nahe stehen, die eine Verwandtschaft mit dem selbst Erfahrenen und selbst Erlebten haben. Eine zunehmende Vertiefung des Erlernten tritt ein. Unsere Standpunkte werden geschliffen wie Kristalle. Individualitäten mit „geschliffenen Kristallen“ stehen sich gegenüber. Je differenzierter der persönliche Schliff ist, umso schwieriger wird die Zustimmung dem Fremden, dem Andersartigen gegenüber.

Standpunkte werden gegen andere Standpunkte verteidigt. Wahrnehmungen werden eingeschränkt, ausgerichtet nach dem vorgegebenen Muster dessen, was man sich über Jahrzehnte „eingeschliffen“ hat. Nur so können überhaupt Kriege entstehen. Das ganze Deutschtum als Beispiel, ist eine Blutschlacht zwischen solchen „Kristallen“ der Persönlichkeit, ob sie nun Wallenstein, Friedrich der Große oder Maria Theresia hießen. Kämpfe zwischen den Protestanten und den Katholiken bildeten über Jahrhunderte hinweg Spuren von Blut und Macht und formten am Volk. Immer waren es Standpunkte „nach bestem Glauben und Gewissen“, und dies auf beiden Seiten.

Solche Standpunkte haben einen schwerwiegenden Mangel. Sie verhindern Kommunikation. Als Wallenstein im dreißigjährigen Krieg, nach über 10 Jahren erst, selbst verletzt durch die Schlachtfelder seiner Kriegsmaschinerie tummelte und die blutverschmierten, entstellten oder verstümmelten Leichen sah, entdeckte er, wie unsinnig dieses Blutvergießen war! Er zog die Konsequenzen daraus und wollte mit den Protestanten verhandeln. Dem Kaiser gefiel das gar nicht und er ließ ihn richten. Andere schnallen sich eine Bombe an den Bauch und jagen sich und andere unschuldige Opfer, für die eigenen Standpunkte in die Luft!

Aber auch Weltanschauungen sind voll von diesen Standpunkten. Die Bombe kann auch ein schneidendes Schwert der (persönlichen) Gerechtigkeit sein, mit dem man(n) das Böse bekämpft. Und immer wieder die Frage: Was ist das Böse? Die eine Antwort lautet: Jede Art von Gewalt am anderen Menschen und an Lebewesen sind böse. Die andere Antwort geht tiefer. Sie beschäftigt sich nicht nur mit einer Tat und verurteilt diese, sondern mit dem Motiv! Und dabei ist Gewalt viel weiter zu fassen, als nur auf Mord und Totschlag. Gewiss, dort zeigt sie sich am unmittelbarsten und am fatalsten. Was aber, wenn Gedanken selbst Gewalt bringen können? Wenn Gedanken zu Waffen werden?

Mit dieser Art von Gewalt beschäftigt man sich viel zu wenig. Es gibt Kulturen, die den Totschlag gegen das „Böse“ mit einer göttlichen Mission rechtfertigen. Der Beurteiler wird also sehr schnell zum Verurteiler, je nach dem, welchen Standpunkt er oder sie vertritt. In diesem Dilemma befinden wir uns auch heute wieder ständig, wenn wir über Recht und Unrecht urteilen sollen. Standpunkte haben oft Ansprüche auf die alleinige Wahrheit. Es sind die Schwerter, die unsere Persönlichkeit geschmiedet hat. Es gibt aber auch ganze „Volksschwerter“, religiös motivierte Schwerter, politisch motivierte Schwerter, Macht motivierte Schwerter, kunstmotivierte Schwerter. In jedem Bereich des Lebens bilden wir unsere persönlichen Standpunkte, manchmal härter, manchmal schwächer, je nachdem, wie fest wir uns damit verbunden haben. Die Verbundenheit zu diesem oder jenem, bildet auch aus dem Umfeld heraus, in das hinein wir geboren wurden. Wir nehmen alles aus der Perspektive der eigenen Brille wahr. Das ganze Gebilde daraus ist unser persönliches Lebensmodell. Es ist ein Flickenteppich aus ganz verschiedenen Färbungen und Facetten, zusammengebaut, konstruiert aus einer Fülle von Erlebnissen und Erfahrungen.

Wenn man sich der Stärke dieser Kraft des physischen UND geistigen „Erbstromes“ einmal wirklich bewusst geworden ist, wird man nachdenklich. Denn so vieles verkappen und verdecken wir nur zu gerne mit einem „Schein des Guten“. Wir wollen darüberstehen und eignen uns moralische Vorstellungen an, mit denen wir die Welt nach unseren Maßstäben richten und beurteilen. Dies ohne zu bemerken, dass wir keinen Deut aus der Vernetzung der eigenen Persönlichkeit herausgetreten sind. Dies allein ist unser Beitrag, den jeder für sich zu tätigen hätte. Das Hängenbleiben auf der Ebene der Vorstellungen generell, ob sie nun edel oder weniger edel sind, verhindert den Blick zum eigenen Kern. Die Kraft, aus der das eigentliche Leben fließt, wird dadurch abgedeckt, der „geistige Quantensprung“ erfolgreich verhindert.

Jens Heisterkamp fragt in seinem Vorwort zur letzten Ausgabe von info3 zurecht: “ …wie schwer es für die jeweilige Zeitgenossenschaft ist, Unrecht beim Namen zu nennen und in der Unübersichtlichkeit widerstreitender Urteile die Übersicht zu behalten…“

Man kann sich fragen, wer diese Urteile fällen soll? Der moralisch integre Mensch? Der Gutmensch? Alle, die noch „den gesunden Menschenverstand“ besitzen? Sehen wir in unserer Zeit die wirklichen Gefahren? Wer sieht sie? Oder sind sie etwa genauso versteckt, wie jene vor den beiden Weltkriegen oder zu anderen Zeiten? Keiner will doch, so gegensätzlich die Meinungen auch sind, darauf verzichten, an diesen „gesunden Menschenverstand“ zu appellieren. Alle Kriegsparteien bezichtigen die anderen des Unvermögens und umgekehrt. Am Schluss kommen wir immer wieder an die „letzte Instanz“, an die objektive, allgemein gültige Wahrheit, die jeder zu haben glaubt.

Gerne verweisen wir dabei an einen unbestimmten „Gott“, an ein etwas, weitab von der menschlichen Seele; ein irgendwo in der Ferne, hinter den Wolken sitzendes Wesen oder was auch immer damit für Vorstellungen verknüpft sind; ein Wesen, was sich genau genommen keiner so richtig vorstellen kann und worauf sich doch so viele Völker berufen: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen“ schreien sie und stürzen sich auf all jene, die Unrecht haben. Und die andere Kriegspartei tut dasselbe. Und dazwischen alle möglichen Tönungen und Schattierungen von anderen vermeintlichen Göttern, die alle Recht haben wollen. „Aber man sieht doch, wie die Lage aussieht!“ Schreien die einen dies, so schreien die anderen dasselbe. Sie beurteilen die Lage anders, weil sie eben niemals nur von einem Standpunkt aus zu beurteilen ist und weil, das kommt heute dazu, oft schlicht falsch informiert wird, nämlich so, wie es für die jeweilige Partei von Nutzen ist… Informationen aber sind das A und O der globalisierten Welt und für die „Wahrheitsfindung“, sie bilden die Vorstellungen zum Guten oder Schlechten. Lob dem Journalismus! Anders ist nichts zu beurteilen. Immer ist man auf deren Vertraulichkeit angewiesen.

Wer schreibt Geschichte? Und mit welchen Interessen…? Wie auch immer man die Sache dreht und wendet: Man landet letztlich immer wieder… bei sich selbst: „Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein…“. Das gespaltene Wesen, was wir sind und wovon schon Immanuel Kant sich scheute, indem er jene Macht in ein unbestimmtes Jenseits verschob, muss erkannt und gesichtet werden. Erst wenn wir dieses Andere IN UNS erkennen UND ERLEBEN, wird es zu einem unerschütterlichen Fels, auf dem wir nun – es wird langsam Zeit! – die eigene innere „Kirche“ erbauen können. Dasselbe, was den Anderen bisher immer nur im Außen erkannte (und verurteilte), der große, unerkannte Feind, erkennt sich selbst! Und er stirbt den ersten Tod… den des Egos.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Kunst, ein kreatives Thema

Moderne KunstHaben Sie schon einmal mit einem Holzfäller übers Bäume fällen diskutiert? Oder mit einem Metzger übers Schlachten? Okay, für Vegetarier ein leidiges Thema. Und wahrscheinlich haben Sie sich auch noch nie mit einem Buchalter über Finanzprobleme gestritten. Vielleicht doch, aber grundlegende Meinungsverschiedenheiten werden Sie dabei kaum gehabt haben.

Es sei denn, er hat neue Methoden entwickelt, wie man Steuern hinterzieht. Gut, aber lassen wir das.

Worauf ich hinaus will? Manche Themen sind ausgesprochen kommunikationsfreundlich, andere gar nicht. Zum Beispiel dann, wenn Sie sich mit einem modernen Künstler über Kunst unterhalten.

Die Chance, dabei zu Meinungsverschiedenheit zu kommen, ist doch relativ grösser, als bei anderen Berufsgattungen. Eigentlich gibt es in allen Berufen Profis und Laien, in der Kunst gibt es das nicht! Denn jeder fühlt sich berufen, Urteile abzugeben, zu wissen, was schön und was hässlich ist, gut und schlecht. Und diskutieren lassen sich diese Attribute sowieso kaum. Sicher, es gibt immer gute Gründe für oder gegen etwas zu sein. Die einen mögens schrill, die anderen soft, reine Geschmackssache, weiter nichts. Und es sind vorwiegend die „Laien“, die uns erklären, was Kunst ist: Ganz einfach, Kunst ist vor allem das, was „in“ ist, verkaufbar ist, was Zaster bringt, eine der vielen „heiligen Kühe“ des Investments… sagen viele…

Gibt es wirklich keine Beurteilungskriterien für die Kunst? Ist alles Kunst? Gibt es so etwas wie „gute“ oder „schlechte“ Kunst, „entartete Kunst“? Nein, dann doch lieber still bleiben und das Kriterium der Verkäuflichkeit an die oberste Stelle tun. Auch das, was eigentlich Nicht-Kunst ist, wäre doch interessant zu wissen? Wie kann denn heute unterschieden werden, ob etwas Kunst ist oder nicht, ohne gleich in eine Falle zu tappen, geächtet zu werden, abgestempelt zu sein, oder gar – im Falle antisemitischer Begriffswahl, verhaftet zu werden…? Und: wer bestimmt das? Alle? Niemand? Also ist doch ALLES Kunst? Alles: ein Strohlager, Steine, Kadaver, Scherben, einfach ALLES, einige vernetzte Schuhe, Schweinsköpfe an einem goldenen Haken; „Spielt überhaupt keine Rolle: wichtig ist die IDEE dahinter?“ so der allgemeine Tenor. Das heisst, dieses oder jenes hat für den Künstler eine „bestimmte Bedeutung“. Er möchte seine Idee „transportieren“, „originell darstellen“. Es muss also etwas zum Objekt dazukommen, etwas erklärendes. Es gehört ein Konzept dazu. Die Übertragung der Idee zum Betrachter muss dabei möglichst originell und transparent ein. Aha, das ist also Kunst…

Beispiel: Ich möchte, wie man heute so schön sagt „zum Denken anregen“. Wir denken ja schon viel (…zu viel?); ja, aber wir denken offenbar nicht das Richtige! Richtig ist es so oder so oder so. Ich zeige dir, wie man richtig denken sollte, deshalb hänge ich den Schweinekopf an den goldenen Haken, möglichst blutig, damit man sieht, was mit uns armen Schweinen passiert, wenn… und wenn ihr es nicht checkt, so seid ihr selber schuld. Okay, ich werde das mit den armen Schweinen jetzt mal lassen… ist ja egal, ich kann doch einfach einige Quadrate an eine Wand malen, Zahlen hinein kritzeln, ein paar durchstreichen usw.: schon habe ich meine „gute Idee“. Das Ganze als ein riesiges Plakat aufhängen, damit jeder und jede sieht, wie vernetzt die Welt ist… hätten wir vorher ja nicht gewusst…. und? Ist das jetzt gut oder schlecht? Oh, das Urteil überlasse ich doch besser meinen Betrachtern…

Ideen, tausende, abertausende, unendliche Ideen! Und wer hat die Ideen?
Ich!
Ja? Wer ist ICH?
Ja, ich der Künstler Paul!
Okay, Du bist Paul, hast dein Leben gelebt, so wie du es nur leben konntest, hattest dies und das durchgemacht. Lass uns doch einmal über dich reden, Paul, über dein Leben! Woher kommst du? Wie kamst du zu deinem Beruf? Wer waren deine Eltern? Hattest du Geschwister?

Dies und jenes käme zutage, manches Leid, manche Enttäuschung. Verletzungen vielleicht hier und dort. Das Ganze konditionierte Konzept nennst du „Paul“! Und? Ist das alles?
Dieser „Paul“  hat jede Sekunde tausend Ideen, er kann sie nur nicht alle miteinander sehen, weil sie so flüchtig sind. Nur die eine oder andere wird in seinem Gedächtnis haften bleiben, weil er etwas mit ihm zu tun hat, weil er halt Paul ist. Hans oder Peter würden ganz andere Ideen/ Konzepte/ Vorstellungen haben. Anderes würde in ihrem Kopf haften bleiben. Jeder hat seine eigene, gefärbte Geschichte. Also haben die Ideen mit der Geschichte jedes Einzelnen zu tun? Ja, gewiss, womit denn sonst? Aber was haben sie denn für eine Bedeutung für die anderen? Eigentlich keine, müssen sie das denn?

Gut, es kann sein, dass Paul total im „Zeitgeist“ mitlebt und viele seine vernetzten Quadrate mit den Zahlen darin auch gut finden, sexy finden, originell finden. Dann hat Paul Glück gehabt! Er wird ein berühmter Künstler werden und viel Geld damit verdienen. Und weil er bald weiss, was den Leuten gefällt, wird er immer mehr solche Sachen machen und alle werden total begeistert sein! Auf Quadrate konditionierte Menschen werden nach mehr Quadraten schreien, weil sie sich „gesehen“ fühlen. Irgendwann wird alles andere ignoriert, nur noch Quadrate werden akzeptiert, mit Zahlen drin oder dies oder das, halt Ideen eines Menschen mit seiner persönlichen Geschichte. Ist das alles? Gibt es überdies keinen Anspruch an die Kunst?

PS: Betrachten Sie diesen Artikel als ein Kunstwerk, welches zum Denken anregen will 😉

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Lebendige Prozesse

mato | werke
mato | werke

22 Jahre Erfahrung als Kunst-Therapeut veränderten im Laufe der Zeit meine eigenen Ansprüche und Intentionen im therapeutischen Prozess grundlegend.
Es gibt und gab viele unterschiedliche Phasen. Einige taugten weniger, einige mehr. Vieles führte aus meiner heutigen Sichtweise am eigentlichen Ziel vorbei. Es waren oft zu harte und zu enge Korsetts, die ich mir mit festgefahrenen Konzepten selber schnürte.
Solche Konzepte konnten vielfältig und interessant sein. Sie wurden aus ganz verschiedenen weltanschaulichen Richtungen geholt. Wissensstoff unterschiedlicher Art spielte dabei die vorherrschende Rolle. Viele Bücher waren meine Meister.

So wird sich wohl jeder Therapeut, jede Therapeutin am Anfang der beruflichen Praxis über die Runden helfen müssen. Eigentlich eine Binsenwahrheit, die für alle Berufe gleichermaßen gilt. Meistens jedoch stimmen die Konzepte nie ganz mit der Realität überein. Und die Realität in der therapeutischen Situation ist der gegenwärtige Zustand zweier Menschen, die sich im Jetzt, in einem bestimmten Abschnitt ihres Lebens, mit bestimmten Erfahrungen, Einsichten, Vorbehalten, Ideen und Gefühlen gegenüberstehen. Und jedes Mal wird diese Situation durch Veränderungen erneuert. Jede Begegnung wird wieder anders. Die vorgegebenen Konzepte, selbst wenn sie höchsten sozialen und menschenkundlichen Ansprüchen gerecht werden, hindern den klaren Blick auf das Jetzt, auf die Situation, so wie sie ist.

Gewiss, bestimmte Lehrinhalte haben einen durchaus allgemein gültigen Charakter. Sie betreffen die Haltung des Therapeuten selbst, der soziale und empathische Umgang und Zugang zu den Menschen. Sie können vielleicht u.a. in Rollenspielen oder Retreats gelernt werden. Aber sie werden untauglich mit jeder neuen Begegnung, wenn sie nicht modifiziert und verinnerlicht werden. Wer sich beim Autofahren jedes Mal überlegen müsste, welcher Hebel wann und wo zu bedienen ist, der würde nicht sehr weit fahren, ohne Totalschaden zu erleiden.

Zu dieser Verinnerlichung benötigen wir aber andere Kompetenzen und diese erwachsen nicht aus dem angelernten Wissen, sondern durch bewusstes Erleben und selbst reflektierten Erfahrungen. Auf dieser Basis schälten sich die im Folgenden aufgeführten Aspekte meiner therapeutischen Arbeit im Laufe der Jahre heraus. Sie sind zu grundlegenden Säulen für mich geworden. Es soll jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass sie keine fixen Regeln darstellen, sondern lediglich für meine eigene Arbeit (als Kunsttherapeut), eine Bedeutung haben. Wenn sie dennoch hier aufgeführt werden, so deshalb, weil ich glaube, dass sich meine Erfahrungen mit anderen vielerorts decken könnte, oder dass sie hilfreich sein können für die innere Grundausrichtung jeder therapeutischen Arbeit oder des Therapeuten an sich selbst!

Die vier Säulen des therapeutischen Prozesses (mit den Mitteln der Kunst):

  1. Medium
  2. Kreativität
  3. Raum
  4. Technik

Zum Medium: Das Medium spielt in der Wirkungsweise eine sehr wichtige, wenn nicht sogar entscheidende Rolle. Ob mit Farben, Klängen oder mit bildhauerischen Mitteln (z.B. mit Ton), gearbeitet wird, ist nicht gleichgültig für den Zugang zu den kreativen Impulsen, die dem Klienten entsprechen. Der Aspekt der Auswahl steht vor einer Entscheidung über die Art des künstlerischen Mittels. Die Wahl des Mediums steht also zuoberst auf der Liste, weil es eine wichtige Bedingung ist, um eigene kreative Intentionen effizient und unmittelbar umzusetzen.
Ob man eher einen musikalischen Sinn hat, oder mit Farben oder Formen besser umgehen kann ist hilfreich zu wissen für den therapeutischen Prozess. Das muss nicht zwingend heißen, dass man für das künstlerische Mittel schon zum Vornherein gewisse Begabungen mit sich bringt. Vielmehr stelle ich fest, dass oft ein innerer Wunsch die Klienten leitet, diese oder jene Methode vorzuziehen. Auch andere Kriterien könnten Vorrang haben. Die Zusammenarbeit mit Ärzten z.B. erfordert die Erfüllung gewisser Kriterien, so zum Beispiel, wenn Wert darauf gelegt wird, dass sich ein bestimmtes Kind mit der Erdelement auseinandersetzen sollte.
Dies sind nur einige Aspekt, die zur Entscheidung des Mediums führen könnten. Sie liegen meistens außerhalb der eigenen therapeutischen Kompetenz und werden im Vorfeld entschieden. Manche Therapeuten arbeiten gleichzeitig mit unterschiedlichen Methoden, andere spezialisieren sich auf eine einzige Methode. Einige arbeiten in Einzeltherapie, andere in Gruppen. Der Prozess an sich, der im weiteren Verlauf besprochen wird, verändert sich indessen nicht wesentlich. Lebendige Prozesse sind gewissermaßen zeitlos. Sie bedienen sich nur unterschiedlicher Zugangs-Tore und Techniken.

Zur Kreativität: Hat der Klient das geeignete Mittel gefunden, gilt es in weiteren Schritten, durch das Medium zu einem adäquaten Ausdruck zu finden. Es stehen aber damit nicht die Ideen, Konzepte und Vorstellungen im Vordergrund, die der Klientel (oder der Therapeut!) mit sich bringt, sondern tiefer liegende, zunächst verborgene Fähigkeiten und Ausdrucks-Werkzeuge.
Alles was auf der Ebene der Ideen und Konzepte liegt, erreicht nur die Oberfläche der Seele (manche mögen den Begriff nicht…). Wenn er zu esoterisch klingt, verwende man „Psyche“, gemeint ist sowieso das Gleiche :-)…
Unbewusste Prozesse bringen es nicht bis zu den Gedanken, deshalb sind sie ja „unbewusst“. Um an diese Schichten heranzukommen, muss die Fähigkeit einer achtsamen Präsenz geübt werden. Jede Gestaltung aus diesem Hintergrund heraus, fördert den Zugang zu neuen, lebendigen Kräften, die ansonsten verdeckt bleiben. Jeder Gedanke und jede Vorstellung verdeckt den gegenwärtigen Moment. Nur hier, im Jetzt, findet Erleben statt, nirgends sonst!
Das Tor zu diesem Jetzt ist aber so eng, wie einfach. Es ist sozusagen das Nadelöhr, der Punkt, (Neudeutsch „Flow“), den es zu erreichen gilt. Eng deshalb, weil unser Gedankenstrom lieber in der Vergangenheit oder in der Zukunft weilt, statt gegenwärtig zu bleiben. Der Schritt zu dieser Art Präsenz,  stellen also den ersten und wesentlichsten therapeutischen Anspruch dar. Natürlich kann man auch mit dem konditionierten Ich arbeiten. Das Erkennen von Einseitigkeiten in einer Persönlichkeit steht hier im Zentrum der therapeutischen Intervention. Wie in den verhaltensorientierten Therapien üblich, wird versucht, den Umgang mit diesen Einseitigkeiten zu erkennen und dann zu korrigieren oder konditionieren. Dies geschieht mit klar vorgegebenen Standards. Polare Verhaltensmuster können dann z.B. diese Korrektur bewirken.
Diese Methoden zielen nicht darauf ab, grundsätzliche Umwandlungen im Sinne eigener Bewusstseinsarbeit herbeizurufen. Sie zielen auf das Verhalten und nicht auf den sich so Verhaltenden.
Die kreativen Prozesse wirken tiefer. Sie bleiben nicht an der Oberfläche der Persönlichkeit stehen. Sie korrigieren das Verhalten nicht indirekt, auf der Ebene der Konditionierung (was ja der Tierdressur nahe steht). Sie gehen an die Quelle, an den Kern jeder Persönlichkeit. Diese bildet sozusagen den Vorhang oder die Fassade, welche sich aus den Einflüssen der Umgebung im Laufe eines Lebens im Hintergrund, vor allem in der Kindheit, aufbaut.

Zu Raum: Der oben beschriebene Anspruch kann aber nur gewährleistet werden, wenn es gelingt, einen inneren Raum (der letztlich korreliert mit dem äußeren Raum), zu schaffen. Wesentlich für diesen Schritt ist der Aufbau einer gesunden Vertrauensbasis zwischen Klientel und Therapeut. Was hier Raum genannt wird, ist die Summe aller begleitenden Einflüsse. Dies geht von der allgemeinen Stimmung, als Produkt der Gefühle und Emotionen der Beteiligten, über das „Klima“ oder der Wirkungsweise des physischen Umfeldes, bis hin zu spezifischen unterstützenden Maßnahmen während des ganzen Prozesses. Der Therapeut „steuert“ so weit wie möglich die Aspekte dieses „Raumes“. Dies tut er einerseits durch seine eigene Präsenz und Geistesgegenwart, wie auch durch Bereitstellung der notwendigen Einrichtung, Techniken, Werkzeuge und Abläufe, sowie dem unmittelbaren Mitgehen des Prozesses.

Zu Technik: Die Technik wiederum steht zwar hier an letzter Stelle, ist aber sehr wichtig, eigentlich unerlässlich, damit der Klient, die Klientin seine/ihre eigenen schöpferischen Prozesse umsetzen können. Sehr oft stellen dabei die äußeren Umstände im Stoff Widerstände dar, die durch vorgegebene Bewegungsmuster des Klienten blockiert sind. Sie zu überwinden braucht die notwendige Aufmerksamkeit des Therapeuten, sowie Flexibilität und Originalität im Auffinden von begleitenden Maßnahmen. Die Hürden des physischen Stoffes sollten dabei soweit wie möglich überwunden werden. Damit wird die Brücke zur unmittelbaren Umsetzung geschaffen.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

…und hier wird die „Theorie“ gelebt! http:www.wirkstattbasel.ch Besuchen Sie uns!

PS: Im pädagogischern Bereich erzählt Dr. Prof. Gerhard Hüther ziemlich genau, was der Spirit dieser Gedanken ist. Ich empfehle sehr, sich dieses Gespräch zu Gemüte zu führen:

Sucht und Gesellschaft

suchtIn der UPK (Universitäre psychiatrische Klinik) in Basel findet derzeit eine Ausstellung zum Thema: „Rausch, Ekstase, Sucht“ statt. Schon schnell wird dem Betrachter der Dokumente, Bilder, Texte und Tabellen bewusst, dass es sich um ein riesiges gesellschaftliches Thema handelt. Auch wenn es hier um die Geschichte der Suchtpolitik des Kantons Basel Stadt geht, so wird dem Besucher doch schnell klar, dass ein Spiegel für die ganze gesellschaftliche Situation der Gegenwart gezeigt wird.

Was spiegelt sich denn da?
Sucht ist mit Sicherheit weiter zu fassen, als es noch vor einigen Jahrzehnten Fall war. Damals beschränkte sich der Begriff vor allem auf Tabak und Alkohol. In den Sechzigern kamen u.a. die Drogen Opium, Marihuana, Kokain und Heroin dazu, später alle möglichen „designten“ Pülverchen, Mittelchen und Wässerchen.
In den 90er Jahren, als ich noch selbst in der damaligen PUK arbeitete, begann die große Diskussion um den medialen Konsum (Fernsehen, Internet, Games etc.). Damals, in den Anfängen des Internets, war es durchaus nicht Usus, dass man diesen neuen Medien ein Sucht-potential zusprach! Heute ist das kein Thema mehr. Die Gefahren von Verhaltenssucht wurden erkannt und heiß diskutiert.

Es gab vielfältige Hilfestellungen, die dem Phänomen entgegenwirken sollten.
Es wurden zunehmend alle möglichen (und unmöglichen) Experimente unternommen, die das Suchtverhalten Erwachsener und Jugendlicher aufzeigten. So auch aktuell in einer Studie mit einer Klasse in Basel. Es ging darum, 24 Stunden aufs Internet zu verzichten!
Ich wiederhole: 24 Stunden!
Keiner der Klassenmitglieder bestand den Test!
Denn es gab immer wieder einen Grund, die Abmachung zu brechen. Hier einige Stimmen aus dem von den Schülern protokollierten Verlauf:

  • Ich konnte nicht widerstehen meine Mails auf Facebook zu checken…
  • Ich hatte keine andere Wahl, da ich ein Bewerbungsschreiben per Mail versenden musste…
  • Wie ich mich fühle? Langweilig. Langweilig. Langweilig…
  • In der Schule habe ich mein Handy nicht benutzt. Am Nachmittag musste ich Musik hören. Musik ist sehr wichtig für mich…

Bei aller „Logik“ dieser Antworten: das Problem ist langsam im gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen. Es ist sicher müssig, sich darüber auszulassen, welche Art von Sucht nun die Schädlichste im lusteren Reigen ist. In jedem Fall geht es immer um den Verlust von Eigenständigkeit. Jede Sucht ist gewissermaßen eine selbst auferlegte Freiheitsstrafe.
Die Abhängigkeit ist in jedem Fall das zentrale Thema. Ob es ein Stoff ist oder ein psychischer oder sozialer Faktor: die Folge bleibt immer gleich: Bindung und Abhängigkeit.

Die Präventionsmaßnahmen oder die „Suchtbekämpfung“ sehen jedenfalls sehr unterschiedlich aus. In vielen Fällen werden weniger die eigentlichen Wurzeln angegangen, als vielmehr ein „gemäßigter Umgang“ mit den Mitteln angestrebt. Aber eben, was heißt gemäßigt? Kann ein Süchtiger überhaupt mäßigen? Oder ist es eben nicht gerade das Überschreiten des gesunden Maßes, was die Sucht erst ausmacht? So oder so, das Übel liegt wohl tiefer.

Natürlich gibt es nahe liegende Zusammenhänge zwischen Sucht und Psyche, zwischen Sucht und Depressionen, zwischen Sucht und Angst, Sucht und Psychose  usw. Man kann aber davon ausgehen, dass die Kernthemen überall tiefer liegen. Die moderne Gesellschaft ist keine Einheit mehr. Auf der einen Seite werden künstliche Gemeinschaften geschaffen, welche diese Einheit vortäuschen sollen (Staatenbünde, Interessengemeinschaften etc.), auf der anderen Seite zerfallen immer mehr die Grundelemente jeglicher Einheit bildender Faktoren, wie Gerechtigkeit, Toleranz, Achtung und Mitgefühl. Die Gesellschaft, so scheint es, ist global ausgebrannt, ist nicht mehr in der Lage, ihre Individuen mitzutragen, Hüllen zu bilden, oder meinetwegen auch ein Heimatgefühl, welches den Reiz von jeglicher Maßlosigkeit verhindern oder zumindest dämpfen könnte. In diesem Fokus steht die Sucht allerdings nicht alleine, sondern wohl jede Art von Überreaktionen, also auch jene von Gewalt und Kriminalität.

Was bleibt als Eindruck übrig?
Die oberste und wichtigste aller Kompetenzen zur Förderung eines gesellschaftlichen Bewusstseins steht und fällt mit der Persönlichkeitsentwicklung jedes Einzelnen. Nur wer sich in der Auseinandersetzung mit sich selbst erkennt, bildet neue soziale Fähigkeiten heran, die diesen Überreizungen entgegenwirken können… genau so stand es schon vor Jahrtausenden am Tempel zu Delphi: „Erkenne dich selbst“.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

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