Sigmund Freud und die „geistige Wende“

libidoWenn wir in die Zeit um die Jahrhundertwende des vergangenen Jahrhunderts zurückschauen, können wir nach drei Seiten hin mächtige kulturelle und gesellschaftliche Impulse erleben.

Der erste große Impuls wirkte sich in der Kunstszene aus. Der Impressionismus und später der Expressionismus sind wichtige Zeugen davon. Eine zweite große Welle entstand als ein anderer mächtiger gesellschaftlicher Impuls in der Psychoanalyse. Namen wie Sigmund Freud und später C.G. JungAlfred Adler, und andere; sie trugen ebenfalls zu einer weitreichenden und wichtigen Entwicklung bei. Der dritte große Impuls schließlich war spiritueller Art und verwirklichte sich u.a. in der theosophischen Bewegung und etwas später durch die aus dieser heraus entstehenden anthroposophischen Bewegung.

Alle drei Impulse standen einander – nicht inhaltlich, aber zeitlich – sehr nahe. Die Aufbruchstimmung jener Zeit war auch gleichzeitig eine Bewusstseins-Revolution. Das florierende Industriezeitalter war über seinen Zenit gelangt und die Menschen standen vor ähnlich grundlegenden Fragen wie heute. Sigmund Freud und die Psychoanalyse waren eine Revolution in instabilen wirtschaftlichen Verhältnissen. Der erste Weltkrieg und die darauf folgende globale große Krise der Dreißiger veränderten die Strukturen der Gesellschaft von Grund auf.

C.G. Jung, damals ein wichtiger Schüler und Freund Sigmund Freuds, schrieb in seinem Buch: „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ über Freud folgendes: „Vor allem schien mir Freuds Einstellung zum Geist in hohem Maße fragwürdig. Wo immer bei einem Menschen oder in einem Kunstwerk der Ausdruck einer Geistigkeit zutage trat, verdächtigte er sie und ließ «verdrängte Sexualität» durchblicken. Was sich nicht unmittelbar als Sexualität deuten ließ, bezeichnete er als «Psychosexualität». Und an anderer Stelle heißt es: „Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud zu mir sagte: «Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.» Das sagte er zu mir voll Leidenschaft und in einem Ton, als sagte ein Vater: «Und versprich mir eines, mein lieber Sohn: geh jeden Sonntag in die Kirche!» Etwas erstaunt fragte ich ihn: «Ein Bollwerk – wogegen?» Worauf er antwortete: «Gegen die schwarze Schlammflut -» hier zögert er einen Moment, um beizufügen: «des Okkultismus.» Zunächst war es das «Bollwerk» und das «Dogma», was mich erschreckte; denn ein Dogma, d. h. ein indiskutables Bekenntnis, stellt man ja nur dort auf, wo man Zweifel ein für alle Mal unterdrücken will. Das hat aber mit wissenschaftlichem Urteil nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit persönlichem Machttrieb“.
Für C.G. Jung war diese Begegnung ein „…ein Stoß, der ins Lebensmark unserer Freundschaft traf“. So eng die Freundschaft dieser beiden Größen auch war, so verschieden war ihre Auffassung der Libido-Theorie, wie sie von Freud als „Bollwerk“ gegen die „Schlammflut des Okkultismus“ proklamiert wurde. Was hat nun aber diese Auffassung Freuds für Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein?

Freud reduziert den Menschen auf die eine, allmächtige Urkraft der Libido. Für ihn gab es keine spirituelle Entwicklung, wie sie z.B. von C.G. Jung angestrebt wurde. Es gab für ihn auch nie so etwas, wie keine höhere, „göttliche Kraft“ im Menschen. Alles, was in ihm zum Ausdruck gebracht wurde, war die pure Energie der Sexualität. Die gesamte psychische Struktur eines Menschen findet, nach Freud, dort ihren Ursprung.

Das atheistische, auf rein physikalische Vorgänge reduzierte Menschenbild ist die Grundkraft für viele andere, auch neuere Anschauungen geworden. Sie zeigen sich auch heute wieder in der bildenden und in der darstellenden Kunst. Man wird den Eindruck nicht los, dass selbst die großen Klassiker des Theaters von Goethe, Shakespeare oder Schiller usw. im Wesentlichen auf eine psychosexuelle Ebene reduziert werden.

Freud hat aber mit seiner Libido-Theorie auch noch andere gesellschaftliche Auswirkungen zu verantworten. Wie soll unter diesen Vorzeichen die Sinnfrage für ein neues Bewusstsein oder auf die Selbst-Reflexion hin beantwortet werden und damit Anreiz für eine persönliche innere Entwicklung jedes Einzelnen angestrebt werden, wenn solche innere Entwicklung bloß auf die sexuelle Energie reduziert wird? Doch die Zeichen häufen sich, dass die Werte wieder tiefer greifen und der spirituelle Hintergrund des Daseins einen neuen, gesünderen und sozialeren Aufschwung erfährt. Nicht zuletzt die Quantenphysik und die moderne, neurologische Forschung stellen vieles unter ein neues Licht. Die Wurzeln unserer Herkunft, welche für Freud noch an die engen Ketten der Sexualität und des Ödipus gebunden waren und sich nur auf die Kindheit ausgerichtet haben, werden von neuem Bewusstsein freigelegt und neu definiert.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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