Was ist „Geist“

Als Künstler möchte ich versuchen, eine künstlerische Antwort auf diese Frage zu geben.

Ich würde Dir vielleicht raten, mit mir zu einem Eichenbaum zu gehen. Dann würde ich Dir ein Blatt Papier und einen Stift in die Hände geben und Dich bitten, einen Ast oder einen Zweig auszuwählen. Diesen Zweig sollst Du akribisch genau abzeichnen. Du sollst versuchen, sehr genau die Blätter zu studieren und sie auf Deine Zeichnung zu übertragen. Nach ein, zwei Stunden würde ich Dich bitten, die Zeichnung beiseite zu legen und eine Weile in Dich zu gehen. Die Intensität Deiner Beschäftigung mit der Eiche, hat in Dir bestimmte Gefühle ausgelöst. Wenn Du Dich wirklich vertieft hast in Deine Aufgabe, wirst Du mit Deinem Blick nach innen etwas von diesen Gefühlen erkennen und erleben.

Nun schreibst Du diese Nachklänge auf und begibst Dich zur Ruhe.

Am nächsten Tag führe ich Dich zu einem anderen Baum, zum Beispiel zu einer Linde. Nun zeichnest Du auch hier, wie am vorderen Tag einen Zweig des Baumes. Du versuchst, Deine Gedanken und Deine Wahrnehmung so exakt, wie es ein Wissenschaftler tun würde, auf Blätter, Äste und Struktur zu richten. Deine Zeichnung soll so genau wie möglich diese Linde darstellen.Auch jetzt bitte ich Dich erneut nach ein, zwei Stunden, in Dich zu gehen und die Gefühle wahrzunehmen, die aus der Beschäftigung mit der Linde entstanden sind, aufzuschreiben.

Nach einer weiteren Nacht der Ruhe begibst DuDich zu einem dritten Baum. Dies tust Du sieben Tage und sieben Nächte lang.

Nun siehst Du alle Deine Erlebnisse. Und jedes ist anders als das vorhergehende. Jedes dieser Erlebnisse trägt etwas Charakteristisches dieses einen Baumes in sich, mit dem Du Dich beschäftigt hast. Das erste Gefühl mag in Dir etwas Kraftvolles, dynamisches geweckt haben, aber vielleicht gleichzeitig eine verdichtete und satte Substanz. Das zweite dagegen vielleicht etwas Leichtes und Lichtvolles, aber auch etwas Freudiges und Durchlässiges. Und so geht es weiter durch alle sieben Bäume. Jedes ist neu und anderes. Und jedes bildet etwas Wesentliches ab, welches auf innere Kräfte hinweist. Das ist der Geist, der in den Dingen wohnt. Und der Zugang ist das sich strenge halten an die exakte Wahrnehmung und an das exakte Denken. Diese beiden, Wahrnehmung und Denken sind sozusagen die Treppenstufen zum Geistigen.

Vorbedingungen

Es gibt allerdings einige Vorbedingungen, an die es sich zu halten gilt. Die erste ist diejenige, dass man sich wirklich einlassen muss, sowohl auf das Zeichnen wie auf die genaue Beobachtung. Das zweite ist die ungeteilte Aufmerksamkeit, die aufzubringen ist. Und das dritte ist die Fähigkeit eines ungefärbten Urteils. Lenkt man nach einer unaufmerksamen Tätigkeit seine zerstreuten Gedanken auf die chaotische Gefühlswelt in seinem Inneren, so wird das Ergebnis keine Relevanz zum Objekt aufweisen. Jedoch wird ein Ergebnis, welches aus diesen Vorbedingungen entsteht, ein einheitliches Ergebnis liefern bei jedem, der diese Aufgabe zu lösen versucht. Vielleicht werden unterschiedliche Begriffe gewählt, im Grundcharakter besteht Übereinstimmung.

Materielle Relevanz

Jetzt kann man das Eichenblatt oder das Lindenblatt, Zweige und Äste natürlich unter dem Mikroskop untersuchen; man wird nichts von all den Gefühlen und Empfindungen finden, die man aus diesem Nachklang heraus gefunden hat. Es gibt in diesem Forschen keine materielle Relevanz zum Geistigen. Aber man kann im Materiellen einen Abdruck finden, hinter dem sich solche geistigen Erlebnisse verbergen. Der Schlüssel, das Verborgene („okkulte“) zu entdecken, liegt jedoch jenseits materieller Erscheinungen. Die Bemühungen, die dazu angestellt werden, müssen dementsprechend über ein normales, intellektuelles Denken hinausgehen in eine Art intuitiver Erkenntnis. Die Erkenntnis, welche aus den genannten Vorbedingungen („Nebenübungen“) entsteht, liegt jenseits einer Doktrin, die darin lediglich etwas Subjektives sehen oder gelten lassen will. Jedoch kann das Objektive nicht mit pragmatischen, wissenschaftlichen Methoden gefunden werden. Es liegt an der inneren Erkenntnis, die mehr zu erfassen vermag, als das materiell Sichtbare. Jeder Eiche, jeder Linde, liegt eine Art „Idee“ zugrunde: Das „Eichige“ oder das „Lindige“, wenn man so will. Es ist etwas hinter den Erscheinungen liegendes unsichtbares (nicht etwa nur feinstoffliches, sondern unsichtbares!), welches sich in ALLEN Eichen und in ALLEN Linden dieser Welt manifestiert! Gemäß der geografischen Begebenheiten und gemäß der Topografie entfalten sich diese Kräfte unterschiedlich. Mal werden sie grösser, mal kleiner, mal breiter, mal höher. Dies genau hat Goethe erkannt, als er die Idee der Metamorphose der Pflanze entdeckte!

So ist der erste Schritt getan in eine lebendige Welt einer geistigen Vielfalt. 

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… – Einblicke in die Kunsttherapie… ein Resume nach 25 Jahren…

Kann das wahre Ich bedroht werden?

Das Ich kann nicht bedroht werden. Es kann höchstens verdeckt werden. Dieses, was man in anthroposophischen Kreisen das „Ich“ nennt und als „Wesensglied“ bezeichnet, muss in seinem Wirken auf der Erde als „Ich-Organisation“, nicht aber als das wahre Ich selbst verstanden werden. Die Hülle, die diesen „reinen Geist“ umhüllt, kann verdeckt sein, kann zugepflastert sein mit allem möglichen Seelen- und Erdenkram. Aber verletzbar ist reiner Geist nicht, sonst wäre er nicht rein! Genauso wenig kann der Nebel die Sonne verletzen.

Es ist so viel zu hören von der „Verletzung des Ich“ als grösste Bedrohung der Menschheit. Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, hat sein geistiges Erleben in Worte fassen müssen. Das bedingte, dass er ein Begriffssystem schaffen musste, welches quasi als Übersetzung von (real geistigen) Dingen diente, die in direkter Weise über das Denken keinen Zugang zu vermitteln vermögen. Den Oberbegriff „Anthroposophie“ hat er gleichfalls in diesem Sinne verstanden haben wollen, nämlich als ein lebendiges Wesen. Das Denken ist ein Wegbereiter. Solange es jedoch nur Inhalte schafft, verbindet, kombiniert, analysiert und interpretiert, befindet es sich ausserhalb reinen Geisterlebens, wie es dem „wahren Ich“ (das ist, reinem Geist) zugänglich ist. Ein solcher Zugang findet erst statt, wenn man das „Nadelöhr“ durchschreitet und an der Wurzel, am Entstehen, an der Quelle des Denkens angelangt ist. Der „Logos“ – der in manchen Übersetzungen auch als „Ursprung des Denkens“ verstanden wird und welcher, gemäss Johannes 1. Vers 1 am Anfang (von ALLEM) gestanden haben soll – meint genau dies.

Der Verstand als Endprodukt aller Weisheit

Wenn Steiner in diesem Sinne von „Wesensgliedern“ spricht, dann gibt er Unterscheidungen preis, die in dieser Art und Weise (aus der Sicht des Geistigen) nicht getrennt erlebt werden! „Ätherleib, Astralleib und ebenso der physische Leib“ sind zwar „Glieder“, aber doch niemals getrennt! Das Ich schon gar nicht. Gerade hier zeigt sich doch die All-Einheit der Dinge im Menschengeist. Das Bewusstsein muss dies alles trennen, um es verstehen zu können! So gelangt man immer wieder zum Verstand als Endprodukt aller Weisheit. Man muss aber dieses Nadelöhr durchschreiten, will man mit unmittelbarem Erleben etwas vom „Jenseits“ erfassen. Doch auch hier, in diesem bescheidenen Beitrag, stehen Begriff an Begriff, Gedanke an Gedanke gereiht. Wie also soll das gehen? Eigentlich unverstanden und seelenlos muss in dieser Weise alles werden, was sich dem Verstand unterordnet, wenn es nicht wieder zurückverwandelt wird in wahre Geistsubstanz. Und weil das wahre Ich eben solche Geistsubstanz ist, kann es nicht verletzt werden. ES IST ALLES. Sowenig wie Gott – oder wie man diese Energie nennen will – verletzt werden kann, so wenig kann dieses „Ich“ verletzt, bedroht werden, insofern es eben diesen reinen Geist darstellt. Vielmehr wird dieses Ich UMHÜLLT. Alles, was sich als Hülle zeigt, wird wahrgenommen und verarbeitet. Das ist „Normalzustand“. Und der ist wirklich SEHR normal. Das Hüllenwesen muss viel mehr gesehen werden! Denn wer seine Hülle sieht, ist schon nah am Zentrum!

Nur wahre Selbsterkenntnis ist der Weg

Um aus dem Teufelskreis des Verstandes auszubrechen, um ihn sozusagen zu „überwinden“, muss man sich in der Selbstbeobachtung üben. Denn was aus uns spricht, wird zwar auch „Ich“ genannt. Aber es unterscheidet sich von eben diesem reinen Geist genauso, wie der Nebel sich von der Sonne unterscheidet. Ist man im Nebel drin, meint man, es gäbe keine Sonne, wüsste es der Verstand nicht! Das Licht verschwindet, wird milchig und undurchsichtig, getrübt. Alles, auch jede anthroposophische, buddhistische, christliche Terminologie, was auch immer, entfernt sich in dieser Weise vom eigentlichen (erlebten) Sonnenlicht. Alle beschreiben diese „Sonne“, das „Höhere“, das „Wahre“, die „Mitte“, aber eben immer nur aus der Sicht des Benebelten. Es werden Worte gestammelt und jeder und jede versteht darunter wieder etwas anderes. So wird gestritten, weil man über etwas spricht, wovon man keine eigene Erfahrung hat. Es werden verbitterte Kriege geführt um sein Recht durchzusetzen! Und diejenigen, die die echten Erfahrungen hatten und nun wieder in Worte übersetzen müssen, verzweifeln fast daran, weil sie spüren, dass sie niemals imstande sind, das Erleben in dieser Weise UNMITTELBAR kundzutun. Ein fürchterliches Drama… denn Worte allein nützen letzlich NICHTS!

Der Anfang aller Selbsterkenntnis ist deshalb eine Erkenntnis der Hülle von einer „tiefer liegenden“ Hülle. Das ist deswegen noch kein „reiner Geist“, auch wenn man dies meint! Das „Hocharbeiten“, oder besser: “in die Tiefe arbeiten“, ist sozusagen der Erkenntnisweg, der einem das gewöhnliche Leben schon bietet. Es ist ein Ringen um einen immer „höheren“, besser “tieferen“, Standpunkt. Am „Ort“ des „wahren Kerns“, und das kann nur die Geistes-Gegenwart sein, stellt sich Stille ein… das ist erst die wirkliche Er-Leuchtung, die erste Stufe höherer Erkenntnis hat begonnen… wir stehen am ANFANG höherer Geist-Erkenntnis…

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Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Gedankenfetzen: Vorstellung und Geist?

vorstellungDas persönlichkeitsverhaftete Denken nenne ich Vorstellung. Nicht aber jenes befreite, aktive Denken, welches sich von jeglichem Egoismus gelöst hat und, sich selbst erkennend – also den Akt des Vorstellens beobachtend – erfährt. Frei von Konventionen, frei von Dogmatismen, frei von Traditionen und frei von jeglicher mit der Persönlichkeit verhafteten Verhaltensweise.

Insofern ist Vorstellung zwar Geist. Aber sie ist ungereinigter, vom Schlamm persönlicher Sympathie und Antipathie beladener, verdeckter Geist. Geist, der sich eingehüllt, hinter der Fassade der Persönlichkeit, hinter dicken Mauern, versteckt.

Das ist zwar nur eine Definition. Eine von mir persönlich gefärbte Definition. Anyway… nicht der Begriff machts aus, sondern der Geist, welcher hinter dem Begriff steckt. Wir können die Vorstellung auch „Praximodufikantus“ nennen oder mit anderen, ähnlich phantasievollen Worten belegen. Das einzige wichtige ist für die Verständigung die Übereinkunft der Formulierung, also die gemeinsame Begriffsdefinition. Vielleicht haben Sie eine andere Vorstellung davon, was Vorstellung sei. Voilà! Das genau meine ich…

Gibt es eine Legitimation für Begriffe? Ein Patentrecht sozusagen? Sind die Worte, die wir gegenseitig austauschen, objektiv? Ist der Duden oder Wikipaedia rechtsgültig? Zweiterer definiert den Begriff, im psychologischen Sinne, folgendermassen:

[1] Psychologie: die gedankliche, vergeistigte, innere Abbildung (Projektion) der (äußeren) Realität, Wirklichkeit, im inneren (Gedächtnis, Gefühl, Bewusstsein), die real erlebte Projektion der (äußeren) Realität/ Wirklichkeit | also: vorgestellt vor die Realität/.., darum Vorstellung – aber eigentlich zwischen äußerer Realität/.. und (durch Wahrnehmung dieser Realität/..) im inneren Gedächtnis,.. abgebildeter, wahrgenommener, innerer Realität/ Wirklichkeit

Die Frage bleibt, selbst bei einer „inneren Abbildung der Realität“ bestehen: Wie wirklich ist diese Realität durch unsere individuellen, persönlichen Sinne betrachtet. Wodurch wird die reine Wahrnehmung, das Abbild gefiltert oder gestört? Wie entstehen Urteile? Und warum gibt es so krasse Wahrnehmungsunterschiede, bei aller Liebe zur „Wahr“- nehmung? Jede Projektion hat einen Bezug zur individuellen Entwicklung jedes einzelnen Menschen und ist in diesem Sinne immer nur als „persönliche, subjektive Wahrnehmung“ aufzufassen. Die Hauptfrage bleibt, ob es eine Möglichkeit gibt, diese Mauern, die Hüllen innerhalb der eigenen Persönlichkeit zu durchbrechen?! Und wer, ausser wir selbst, können diesen Schleier lüften…?
Diese Fragen versuche ich in meinem Buch über Selbst-Reflexion zu beantworten…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Osterglocken im Faust

mephistoDu gleichst dem Geist, den Du begreifst…!
(…und diesen nur wirst Du anbeten!)

Kennen Sie den Faust, Goethes „Faust“? Er ist ein wahres Wunderwerk inneren Lebens. Man stelle sich dieses Bild vor: Faust sitzt in seiner „staubigen Wissenswelt“, in seinem Keller, der ihm als Arbeitsraum dient. Er ist gefüllt mit all den Dingen, die er  in seinem bisherigen Leben gelernt und gelebt hat, eine trockene Welt! Und er beginnt daran zu zweifeln…

Er habe, so sagt er mit einem stöhnenden „Ach!“, Philosophie, Juristerei, Medizin und sogar Theologie studiert! Und er bekennt konsterniert: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug, als wie zuvor!“ Faust spürt, daß alles Wissen dieser Welt für seine innere Entwicklung keinerlei Bedeutung mehr hat. Er spürt eine vollkommene Leere, ein ausgetrocknetes Herz. Das ist der Punkt, an dem wir heute bewusst stehen! Manche sind taub dafür und rennen weiterhin dem äußeren Anhäufen von Wissen, dem Schein nach Glück nach, in der Hoffnung, dort „die große Erkenntnis“, die „unumstößliche Wahrheit“ zu finden. Goethes Faust drückt dieses innere Erlebnis so aus:

„Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel – dafür ist mir auch alle Freud entrissen, bilde mir nicht ein, was rechts zu wissen, bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren.“

Faust beginnt, an allem zu zweifeln, was ihn umgibt. Er zweifelt an der Welt und er zweifelt an sich selbst. Er ist an dem Punkt angelangt, an welchem er im Grunde nur noch sterben möchte – oder – sich der Selbsterkenntnis zu widmen. Das erste ist ihm nah, das zweite fern. Er schreit es hinaus:

„Weh, steck ich in dem Kerker noch? Verfluchtes, dumpfes Mauerloch, wo selbst das liebe Himmelslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht! Beschränkt von diesem Bücherhauf, den Würmer nagen, Staub bedeckt, den, bis ans hohe Gewölb hinauf, ein angeraucht Papier umsteckt; mit Gläsern, Büchsen, rings umstellt, mit Instrumenten vollgepfropft, Urväter Hausrat dreingestopft – das ist deine Welt! Das heißt deine Welt?“

Das Menschenbild, welches Goethe hier am Faust entwickelt, ist der innere Zustand, der, mehr als früher noch, innigst nachempfunden werden kann; es ist der Abgrund, an dem so mancher heute steht. Die Wende, die kommen muß, ist eine Wende nach innen, in die eigene Seele, zur Freiheit. Auch Faust versucht dies. Er ist immerhin Wissenschaftler von hohem Rang und Namen, ein gebildeter Mensch also, der viel Erfahrung hat und viel weiß, doch dies Eine nicht: „Was die Welt im Innersten zusammenhält“!

Deshalb ergibt er sich, wie er so schön sagt… der Magie! Aber er bemerkt nicht, daß er versucht, den Geist in der gleichen Weise zu erfassen, wie er früher all sein Wissen erfasst hat. Er liest in den heiligen Schriften, der Bibel und in anderen Büchern der Magie und versucht deren Zeichen zu deuten! Aus diesem Erlebnis heraus findet er schließlich Zugang zu einem „geistigen Wesen“ (in sich), mit welchem er in einen Dialog kommt: Dieser Geist spricht nun zu ihm: „Du hast mich mächtig angezogen, an meiner Sphäre lang gesogen, und nun – „ Faust erträgt seine Stimme nicht…er verabscheut sein Antlitz…

Und der Geist spricht weiter: “Du flehst eratmend, mich zu schauen, meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehen; mich neigt dein mächtig Seelenflehen. Da bin ich! – Welch erbärmlich Grauen fasst Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf? Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf und trug und hegte, die mit Freudebeben erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben? Wo bist du, Faust, des Stimme mir erklang? Bist DU es, der von meinem Hauch umwittert, in allen Lebenstiefen zittert, ein furchtsam weggekrümmter Wurm?“

Faust ergibt sich nicht, er (sein Ego) wähnt sich seinesgleichen! Er meint – noch selbstbewusst – er habe Anteil an diesem Geistwesen und sei ihm ebenbürdig! Und er meint, er sei ihm in seinem Kern nah! Doch der innere Geist widerspricht: “Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!“
Faust hatte versucht, sich mit seinem Verstandesbewusstsein an etwas anzunähern, was er „geistig“ nannte. Er konnte noch nicht begreifen, daß die Vorstellungen, die er sich aus diesem Bewußtsein heraus gebildet hatte, seine Erkenntnis leitete und gleichzeitig vernebelte und verfälschte. Das ist der Grund, weshalb ihm dieses Wesen begegnete und ihm als Fremder gegenüberstand. Es war ein verzerrtes Abbild seiner Selbst! Er konnte es nicht ertragen in sein Antlitz zu schauen. Die Begegnung gleicht dem Erlebnis mit dem „Hüter der Schwelle“, welcher ihn zurückweist in seine eigene Welt: Der Welt des Verstandes, der alles nur intellektuell begreifen will.

Das trifft Faust hart. Er bricht zusammen und spricht als Antwort auf dieses Geistwesen (in ihm): „Nicht dir (gleich ich…)? Wem denn? Ich! Ebenbild der Gottheit! Und nicht einmal dir!?“
In diesem Augenblick steht sein Diener Wagner schon an der Tür und reißt ihn wieder in den Alltag zurück! Dieser hörte ihn „proklamieren“ und möchte vom Wissen des Herrn Doktor profitieren!
Nebenbei gesagt: Wie viele möchten vom Wissen der Herren Doktoren profitieren!
Wie viele Zweifel stehen an dieser „Schwelle“, übertragen wir die Geschichte nun auf unser eigenes Leben. Sie reißen uns hinweg, aus dem Leben… oder besser gesagt: in die psychopathischen Kompensationen!
Auch uns steht dieses freudsche „Es“ des Verstandes immer wieder im Wege. Es nimmt Besitz von uns und führt uns von einer Lebenssituation zur anderen, agierend und reagierend.

Faust erlebt seine Innenwelt nun stärker, verweilt darin und erkennt deren verschiedene Aspekte (die „Teilselbste“) in ihm, und er spricht:

„Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, dort wirket sie geheime Schmerzen, unruhig wiegt sie sich und störet Lust und Ruh; sie deckt sich stets mit neuen Masken zu, sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen, als Feuer, Wasser, Dolch und Gift; du bebst vor allem, was du nie verlierst, das musst du stets beweinen.“

Und in tiefstem Gram, am Ende seines „Lateins“, als nur noch der Tod als Lösung vor ihm steht…
Da erklingen die Osterglocken des Dorfes und der Gesang erhebt sich:

„Christ ist erstanden Freude am Sterblichen Den die Verderblichen Schleichenden, erblichen Mängel umwanden.
Christ ist erstanden Selig der Liebende, Der die betrübende, Heilsam und übende Prüfung bestanden“
(…aus Goethe Faust 1. Teil)

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

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