Das „heilige“ Feuer

FeuerflammeWie oft rennt man seinen täglichen Pflichten hinterher und bereitet sich durch ein blosses Aktion-Reaktionsverhalten viele selbst geschaffene Probleme und Konflikte. Dabei erlebe ich mich als Menschen in einer gewissen Abgeschlossenheit und Ratlosigkeit diesem Phänomen gegenüber. Die persönlichen Vorstellungen, die ich mir im Laufe des Lebens geschaffen habe spielen eine wesentliche, wenn nicht die entscheidende Rolle.

Vorstellungen sind der Motor des Agierens. Sie sind verantwortlich, ob Emotionen und Gefühle im Inneren wach, bedrängend oder befreiend wirken. Die Vorstellung löst einen Impuls im Gefühlsleben aus, welches meinen Willen antreibt und die entsprechende Handlung einleitet. Das ist Inhalt vieler Aufsätze dieses Blogs. Was hat das mit dem „inneren Feuer“ zu tun? Und warum nennt es C. F. Meyer „heilig“? Der Schweizer Dichter und Erzähler hat in einem Gedicht mit dem Titel „Das heilige Feuer“ einen Zustand des menschlichen Bewusstseins zu beschreiben vermocht, der sich über alltägliches erhebt. Ich frage mich, was dieser Erfahrung Meyers zugrunde gelegen haben mag und möchte seinem Erlebnis nachspüren.

Jeder kennt Vincent van Gogh und sein Schicksal. Er lebte in einer Welt, die sich nicht immer wohlwollend um ihn kümmerte. Er suchte sich künstlerisch und privat die schwierigsten Aufgaben aus, arbeitete z.B. längere Zeit als Prediger in den belgischen Kohlebergwerken unter ärmlichsten Verhältnissen und unter grösster Belastung seiner Gesundheit.
Aus einer Theologenfamilie stammend, wurde in ihm allmählich eine soziale Ader geweckt. Ein eifriger Kampf um das Gute in der Welt begann. Wenngleich dieser Kampf mit vielen persönlichen Moralvorstellungen verbunden war, wie aus seinen Augen eine „gute Welt“ auszusehen habe, suchte van Gogh als Künstler doch immer weiter. Er war ein Mensch, der sich nicht allzulange an einem Ort verweilen konnte. Das gilt physisch ebenso wenig, wie ideologisch.
Er tauchte ab in das, was man „Unterwelt“ nennen könnte, erlebte alle Facetten des Lebens, die man sich vorstellen kann. Und aus dieser leidenden und ringenden Natur seines Wesens heraus entstand in ihm der innere Drang zu malen! Farben! Er frass sie förmlich, berauschte sich an ihnen.

Aber Van Gogh war in den Augen der meisten Künstler seiner Zeit, alles andere als ein Talent! Er wurde von vielen Kollegen der damaligen Zeit verachtet, wurde als Stümper, als Dilettant gesehen ohne Zukunft. An Kunstschulen fand er keinen Zutritt, weil seine Werke und Zeichnungen deren Vorstellungen nicht genügten. Es fehlte an „Professionalität“ nach damaligen Massstäben, und, gemäss dem Urteil seiner Zeit, an Begabung. Van Gogh glaubte das schliesslich selbst auch. Und er litt sehr darunter!
In seinen Tagebüchern und Briefen gibt er diese Leiden eindrucksvoll an seinen Bruder Theo weiter: „In jenen Tagen der Mühle (er spricht von einem frühen Erlebnis mit Theo) – wie sympathisch mir diese Zeit auch immer bleiben wird – wäre es mir doch unmöglich gewesen, das, was ich sah und fühlte, aufs Papier zu bringen. Ich sage daher, daß die Veränderungen, welche die Zeit zuwege bringt, mein Gefühl im Grunde eigentlich nicht verändern, ich denke, daß es nur in einer anderen Form entwickelt wird. Mein Leben, und vielleicht après tout auch das Deinige, ist nicht mehr so sonnig wie damals, aber ich will dennoch nicht zurück, gerade weil ich infolge einiger Mühen und Widerwärtigkeiten etwas Gutes auftauchen sehe, nämlich die Fähigkeit, mein Gefühl ausdrücken zu können.“ (van Gogh Briefe, erster Teil, S. 596)

Das Leid, welches durch vermeintliches „Nichtkönnen“ entstanden ist, schmiedete an jener inneren Qualität des Charakters, welche ihn zum grössten Maler des vergangenen Jahrhunderts, ja bis in die Gegenwart hinein machte. Er gab entscheidende Impulse weiter, die, Jahre nach seinem Tod, ein neues Kunstverständnis weckten. Nicht das Talent und die bloße handwerkliche, (sogenannt professionelle) Fähigkeit waren also das entscheidende bei van Goghs Erfolg, sondern die Fähigkeit „Gefühle ausdrücken zu können“! Diese Fähigkeit verbindet sich mit einem Aspekt seines Inneren, welche über das Alltägliche Können und über das technische Knowhow hinausgeht. Es wird etwas geweckt, was normalerweise im Verborgenen bleibt. Deswegen konnte er auch die Motive seiner Handlungen oft schwer nachvollziehen. Es brauchte eine neue Wahrnehmungsfähigkeit, die sich seinem Alltagsbewusstsein zunächst entzog. Ein Blick nach innen, ein innerer Beobachter in ihm erwachte allmählich.
In diesem Zustand erkennt er neue Aspekte seiner gesamten Biographie, erkennt die Facetten seiner Persönlichkeit. Vincent van Gogh befreite sich durch die Malerei aus der Gefangenschaft seiner verworrenen, inneren Welt, stückweise allerdings und unvollkommen und leider nicht bis zum Ende, wie bekannt ist…

Er spürte beim Malen, daß er nicht Herr in seinem Hause war und daß er im künstlerischen Prozeß an diesem verletzten inneren Menschen arbeiten konnte. Die Dramatik seines Todes (der bekanntermassen im Suizid endete) ist eine Folge des phasenweisen Verlustes einer Feuerkraft, die zunehmend erlosch, bedingt durch seine psychische Struktur.
Im künstlerischen Prozeß entfaltete er neue Möglichkeiten, die ihn an diese Erlebnisse heranbringen konnten. Van Gogh war zeit seines Lebens ein Unbekannter. Er wurde erst nach seinem Tod berühmt. Er selbst erntete keinen Ruhm mehr! Er stand inmitten eines gesellschaftlichen Umbruchs und war einer der geistigen Träger und Säulen seiner Zeit. Aber er wurde nicht erkannt, weil er in seiner Kunst etwas Zukünftiges verwirklichte, was man damals, am Ende des 19. Jahrhunderts, weder nachvollziehen, noch verstehen konnte. Das ist die Tragik seines Lebens.

Auch gegenwärtig stehen wir in einer solchen Umbruchphase. Aber die Zeichen der Zeit werden von der breiten Masse nie erkannt. Das „innere Feuer“, welches auch Vincent van Gogh inspirierte, dieses innere, heilige Feuer, was er aber nicht restlos verwirklichen konnte in seinem Leben kann uns in jedem Augenblick beflügeln! Es ist permanent anwesend. Es leuchtet und wärmt in jedem Menschen im Hintergrund und wartet nur auf seine Ent-Deckung.
Dieses innere Feuer enthüllt sich an der aktiven, bewußten Beobachtung eigener seelischen Strukturen, „Teilselbsten“ und verhärteten Vor-Stellungen. Die Zeit fordert Erkenntnis! Die Gesellschaft ist an einem Kulminationspunkt angelangt, einem „spiritual peak“, wo sie entweder an den eigenen, geschaffenen Strukturen zugrunde geht, oder die Herausforderung einer inneren Entwicklung uneingeschränkt annimmt.

Es ist das heilige Feuer, welches sich am Holz einer jeden Persönlichkeitsstruktur (sprich Ego) entzündet und dieses in Asche verwandeln kann. Diesem Ego geben wir Nahrung durch unsere konditionierten Vorstellungen und Gefühle, bedienen sie freundlich mit allen möglichen (geistigen, psychischen und physischen) „Stoffen“, ohne den „Herrn im Hause“ zu erkennen. Neid, Eifersucht, Hass, Aggression, Angst, Bedrängnis, Rachsucht, Eitelkeit und wie sie alle heißen, die so erzeugten Kinder: sie fordern früher oder später ihre Rechte ein…

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Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

 

Buddhismus oder Christentum?

Christus„Was soll der Streit zwischen Buddhisten und Christen? Machen Sie sich doch einfach „leer“ und sehen Sie, ob was übrig bleibt…“

Als mir der Gedanke kam, lachte ich zunächst schallend! Es trifft einen Nerv, den ich nie bedacht hatte, obwohl er ein wenig salopp daher kam. Aber er hat dennoch eine ungeahnte Tiefe, die ich nicht vermutet hätte, als ich ihn jemandem lachend an den Kopf geworfen hatte…
„Der Satz beruht auf der alles verbindenden Kraft des Erlebens selbst. Alles andere sind Streitereien, die ins Abseits führen, sprich weg von der Erfahrung der Einheit…“ ergänzte ich noch und erntete nur Kopfschütteln…

Hier der Nachklang dieser Erfahrung | Gerade die Erfahrung ist es aber, die viele Diskussionen zunichte machen könnte. Doch wenige wollen sich wirklich darauf einlassen. Besonders in spirituellen Fragen scheint es wenig Bereitschaft zu geben, die Erfahrung dem blossen Wissen, oder dem Glauben, vorzuziehen.
Warum eigentlich?
Weil es mühsam ist und eine Fähigkeit verlangt, die uns nicht zum Vornherein gegeben ist, eine gewisse Konzentration und Ausdauer. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit z.B. lange auf einen Gegenstand zu lenken, ein Bild, einen Menschen, einen Gedanken, eine Pflanze und vieles andere. Dabei stößt man bald an Grenzen. Es kommt immer „etwas“ dazwischen. Ein Gedanke wie dieser: „Was bringt das denn“, oder: „Ich habe doch wichtigeres zu tun, als mich mit solchen Dingen herumzuschlagen“, oder „Es warten so viele wirkliche Probleme auf mich zu Hause, lieber sollte ich mich denen widmen…“ usw.

Erfahrung ist Arbeit | Manchmal Schwerstarbeit! Wissen, welches schnell verfügbar gemacht werden kann, ist oft schon vorhanden, zu allen möglichen Themen. Es ist schnell recherchierbar, jederzeit online abrufbar. Wir hatten vielleicht schon das Vergnügen, einmal einen Buddhisten zu treffen und haben uns mit ihm über Religion unterhalten, dasselbe mit einem Christen, einem Hindu, einem Moslem, Juden usw. Wir waren vielleicht geteilter Meinung. Uns widerstrebte manches, was geäussert wurde und wir zimmerten uns eine entsprechende Antwort zurecht. Diese Antwort taucht nun jedesmal aus dem Untergrund unserer Persönlichkeit auf und ist präsent, wenn das entsprechende Stichwort fällt. Es ist uns zuwider und wir gehen auf Konfrontationskurs. Dasselbe geschieht mit der uns wenig sympathischen Partei, mit Fragen des Alltags usw.

Das ist der Automat in uns | Und der ist ziemlich resistent. Er ist immer präsent und verteidigt SEIN oder „UNSER“ (wessen?) Weltbild, oft vehement, starrköpfig und unnachgiebig.
Sämtliche Unterteilung in Konfessionen, Religionen, politische Parteien usw. ist eine persönliche Abstraktion von einem Ganzen, eine Abtrennung von einer Einheit, die alles umfasst und verbindet. Es sind Standpunkte, Weltanschauungen, die immer aus persönlichen Geschichten heraus konstruiert (und, je nachdem vermarktet) werden. Selbst Religionen, Sekten, werden vermarktet (Stichwort Scientology). Nicht, dass die Erfahrungen der Begründer aller dieser abstrakten Konstrukte zum vornherein falsch sein müssen. Oft sind sie absolut echt und wahrhaftig (Buddha, Christus u.v.a.). Der Bruch passiert nachher, bei denen, die die Erfahrung nicht mehr nacherleben können. Das Wesentliche geht verloren und ein Rinnsal dieser Weisheiten ergiesst sich in den Schriften der Nachfolger (Apostel, Päpste, Priester usw.). Jeder neue Abdruck (und deren mannigfaltige Interpretation) verwässert die reale Erfahrung des Urhebers über Jahrtausende hinweg solange, bis nur noch dürres, brüchiges Geäst übrig bleibt, welches bestenfalls noch als Grundlage für ein Feuer dient…
Ein religiöser Zugang muss immer wieder neu gewonnen werden. Er kann nur durch die persönliche Anbindung an das Ganze gefunden werden. Und das ist das Erlebnis… Vielleicht treffen wir sie dann alle bald wieder: den Buddha, den Christus und alle anderen?

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Karl Popper und der kritische Realismus

Karl_PopperDer Philosoph Karl Popper wurde am 28. Juli 1902 in Wien geboren. Vor allem die Werke von Platon, Hegel und Marx beeinflussten und veranlassten ihn zur Gegenthese einer „geschlossenen Gesellschaft“. Von ihm stammt unter anderem der Begriff der „offenen Gesellschaft“

Einige Aspekte zu seinem Werk:
In Wikipedia steht folgendes:
“Der Kritische Rationalismus übernimmt die im Alltagsverstand selbstverständliche Überzeugung, dass es die Welt wirklich gibt, und dass sie vom menschlichen Erkenntnisvermögen unabhängig ist. Das bedeutet beispielsweise, dass sie nicht zu existieren aufhört, wenn man die Augen schließt. Der Mensch aber ist in seiner Erkenntnisfähigkeit dieser Welt durch seine Wahrnehmung begrenzt, so dass er sich keine endgültige Gewissheit darüber verschaffen kann, dass seine Erfahrungen und Meinungen mit der tatsächlichen Wirklichkeit übereinstimmen (Kritischer Realismus). Er muss daher davon ausgehen, dass jeder seiner Problemlösungsversuche falsch sein kann.“

Er kann, in diesem Zusammenhang betrachtet, nicht nur davon ausgehen, dass seine Problemlösungsversuche falsch sein können, sondern zwingend falsch sein müssen. Das ist eben der Haken an der ganzen Sache! Somit geht auch die Theorie des kritischen Realismus bachab. Sie vernichtet sich sozusagen selbst. Denn sie verschließt die Tore zu einer objektiven Welt, indem sie diese (zumindest aus der Sicht des menschlichen Erkenntnisvermögens heraus), negiert, und deren Realität von der subjektiven Sichtweise trennt (Dualismus). Genau damit stellt sie ihrerseits ein objektives Urteil, auf vermeintlich subjektiver Basis, auf. Popper weist meines Erachtens verständlicherweise auf die Relativierung unserer Urteile hin. Er stellt dieses Relative als Voraussetzung in der zwischenmenschlichen Kommunikation hin. Meinungen, Ansichten, Weltanschauungen treffen aufeinander und bekämpfen oder ergänzen sich, je nach Blickwinkel. Dabei setzt er jedoch die Grenze der Erkenntnis sehr tief an. Er gesteht, seiner Erfahrung gemäß, und vermutlich unbewusst, auch anderen Menschen keine höherere Erkenntnis zu, als er sie selbst erfahren hat. Alle haben sozusagen „ein bisschen recht“. Die “Wahrheit“, wenn man das Produkt dieser Überlegungen im Lichte des kritischen Relativismus überhaupt so nennen darf, findet sich, dessen These nach, erst in der eigenen Auseinandersetzung mit Themen oder im Austausch untereinander, wenn auch nicht zwingend.

Wenn das menschliche Erkenntnisvermögen, wie es Popper, Kant und andere proklamieren, tatsächlich so begrenzt ist, dass es sich keine Gewissheit darüber verschaffen kann, ob die reale Welt wirklich so ist, wie sie ist, dann gleicht jedes Urteil einem Zufallstreffer. Die Wahrheit wird sozusagen ein interaktives Zufallsprodukt. Sie entbehrt damit einem realen Fundament. Gleichzeitig erlischt jeglicher Sinn des zwischenmenschlichen Austausches. Jeder Satz müsste mit “könnte sein oder auch nicht“ kommentiert werden. Bestenfalls könnte die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit einer Sache eingestanden werden. Dabei würde man unweigerlich die Frage stellen müssen, worauf die Einschätzung dieser Wahrscheinlichkeit/Unwahrscheinlichkeit denn beruht? Wer richtet? Wer entscheidet? Und wie entsteht die Begrenzung der eigenen Erkenntnis einer Sache gegenüber? Jeglicher geistiger Halt geht so verloren, relativiert sich. Ob der kritische Realismus sich auch streng logischen (z.B. mathematischen und wissenschaftlichen) Erkenntnissen gegenüber in dieser Weise stellt ist mir unbekannt. Die Anwendbarkeit bezieht sich jedenfalls auf alles, was spekulative, nicht exakte Wissenschaft ist und dazu gehören philosophische, religiöse und weltanschauliche Fragen. Aber genau dort wäre mehr Klarheit wichtig und gefordert.

Nicht dass ich persönlich die Relativität der Wahrheit im alltäglichen Urteil bestreiten würde. Auch dieses Statement ist so betrachtet nur relativ richtig. Der Begriff an sich ist nicht umfassend und abschließend, sondern lässt immer Ergänzungen, Korrekturen, Differenzierungen zu. Wer aber aus der Relativität heraus Erkenntnisgrenzen setzt, der befindet sich in seichtem Gewässer und wird bald stranden müssen. Konsequent weitergedacht, dürfte der kritische Realist keine Grenzen setzen, sondern alle Grenzen aufheben. Denn jedes Urteil darin würde problematisch werden, auch das eigene…
Die Relativität hat immer Potenzial nach oben. Dabei kann offen gelassen werden, ob der Mensch dabei nicht auch in vollkommen neue Dimensionen vorstoßen kann, die zur absoluten Freiheit führen können. Erst die Erfahrung wird es zeigen.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Gespräch mit Rudolf Steiner

rudolf-steinerZum 154. Geburtstag Rudolf Steiners (1861-1925)…

Virtueller, in künstlerischer Weise gestalteter Dialog mit Rudolf Steiner zur heutigen Weltlage und der persönlichen Situation des anthroposophischen Impulses. Das Thema will zu einem Dialog über die „Anthroposophie“ Rudolf Steiners (und darüber hinaus) anregen. Es folgen Fortsetzungen…

UW: Herr Doktor Steiner, ich bedanke mich herzlich, dass Sie sich die Zeit nehmen, dieses Gespräch zu führen!

RS: Ich bedanke mich!

UW: Etwas, was  mir seit Jahren auf dem Herzen liegt und mich sehr beschäftigt, und was ich Sie gerne zuerst fragen möchte, ist folgendes. Wenn ich heute in die Welt schaue und all die Ereignisse um mich herum wahrnehme, die tagtäglichen menschenfeindlichen Geschehnisse, so kommt es mir vor, als ob es nicht gelingen will, wirkliche und nachhaltige Fortschritte im Sinne der von Ihnen initiieren Anthroposophie wahrzunehmen. Zumindest was die Entwicklung der einzelnen Menschen angeht, kann man doch gewiss ein paar Fragen stellen. Die Verstrickungen in die festgefahrenen materiellen Verhältnisse, die vielen Kriege und Missstände, scheinen mir so komplex, unüberbrückbar und unverrückbar geworden zu sein, dass ich den Sinn und Zweck einer anthroposophischen Geisteswissenschaft, wie sie heute betrieben wird, nicht mehr richtig nachvollziehen kann. Wenn Sie nun heute, als Begründer dieser weltweiten Bewegung, hineinschauen in deren Wirken und Tun, was wäre das allerwichtigste und aller dringlichste, was Sie den Menschen, die sich damit verbunden fühlen, sagen möchten?

RS: Diese Frage scheint mir durchaus berechtigt! – Denn tatsächlich ist es ja so, dass sich nach meinem Tode so manche Dinge zugetragen und verzerrt haben und in verschiedene Richtungen auseinander getrieben wurden. Das ist der Preis dafür, dass man vielerorts selbst nicht mehr zusammenhalten kann, was zu meinen Lebzeiten noch an der eigenen Person „gemessen“ werden konnte. Aber genau dieses „Messen an einer anderen Person“, ist das allerschlimmste, was passieren kann und konnte. Die Inhalte der von mir damals „Anthroposophie“ genannten Geisteswissenschaft, blieben als Reste in allem zurück, was davon schriftlich in einem für die damaligen Verhältnisse angepassten Begriffssystem, übrig geblieben ist. Damals war aber eine ganz andere Zeit und es galten andere geistige Gesetze als heute! Das gilt es zu erkennen! Heute müsste alles viel unmittelbarer und direkter und mit großer Einfühlung in die Verhältnisse geschehen. Es dürfte nichts mehr in der gleichen Weise an den von mir seinerzeit vermittelten Inhalten hängen bleiben. Das liegt allerdings mehr an der Verwandlung der Begrifflichkeit, als am damals vermittelten geistigen Kern der Aussagen und Erkenntnisse.

UW: Können Sie uns diesen Punkt noch etwas genauer erläutern?

RS: Gut, ich gebe ein Beispiel: Die von mir im Jahre 1894 geschriebene „Philosophie der Freiheit“, war der Einstieg einer denkend durchdrungenen Gesinnung und Geisteshaltung, die, richtig verstanden, zur Schwelle einer dahinter, im verborgenen liegenden – für das normale Bewusstsein nicht zugänglichen, nicht materiellen – geistigen Welt führen sollte. Es war der Versuch, auf philosophischem Wege, heranzuführen an diese Schwelle. Alles dasjenige, was ich im Weiteren schrieb und vorgetragen hatte, sollte an dieses Schwellenerlebnis anschliessen, was jeden nach Erkenntnis strebenden Menschen in seinem tiefsten Wesen ansprechen sollte. Das Durchschreiten dieses Nullpunktes, dieses Nadelöhrs aus dem philosophischen Kontext heraus, war aber dasjenige, was ich für den Zeitgeist und dem wissenschaftlichen Verständnis am Ende des 19. Jahrhunderts für das dringlichste empfunden habe. Um von Innen her an die Inhalte heranzukommen, im Nacherleben heranzukommen, die ich den Menschen damals mitteilte, musste die künstlich gezogene Grenze des Dualismus von der zur Selbsterkenntnis drängenden Seele durchbrochen werden. Der Begriff „Anthroposophie“ war schlicht die Weiterführung der bis dahin auf dem Erkenntnisweg geltenden Philosophie. Er ist, wie alle Begriffe, zugleich zu einem Hindernis geworden und ich hätte ihn am liebsten täglich neu erschaffen! So wie alles, was sich daraus ergibt, immer nur im eigenschöpferischen Nachschaffen und Neubilden, in einer Art „ethischem Individualismus“ und durch „moralische Impulse“, möglich wird. Daraus enstehen stets neue und überraschende, freie Erkenntnisse, die jeder für sich aber erst mit der jeweiligen eigenen „moralischen Technik“ erschaffen muss, bis sie tätig umgesetzt werden kann. Nur wer sich in diesem Sinne an der Schwelle befindet – oder wer sie überschreitet und in diesen Innenraum eintreten kann – ist im wahren Sinne ein „Anthroposoph“, also einer, der der „Weisheit des Menschen“ von innen heraus erlebend gegenübertreten kann.

UW: Erlauben Sie mir die Frage: Inwiefern wird denn in diesem Kontext heute, aus Ihrer Sicht betrachtet, „Anthroposophie“ betrieben und in diesem von Ihnen gemeinten Sinne weitergeführt?

RS: Weitergeführt werden kann sie ja nur aus der Innenschau heraus. Das heißt, aus dem Erleben heraus! „Anthroposophie“ ist ja eigentlich eine Erfahrungswissenschaft. Sie erfordert Erkenntnisse der sogenannten „höheren Welten“ (auch das sind ja alles zunächst nur Begriffe!). Das meiste, was ich heute wahrnehme, ist noch immer an das Erleben dessen gebunden und verhaftet, was ich in der damaligen Terminologie die „Verstandes- und Gemütsseele“ nannte. Das heisst, es besteht aus einem analytischen und kombinierenden Zusammenreimen von verschiedenen Inhalten, im Sinne des metaphysischen Realismus. Dabei sind die einzelnen Inhalte durchaus richtig, aber es fehlt das „geistige Band“, beziehungsweise die Bewusstwerdung der bereits schon im Erkenntnisakt betriebenen ideellen Gedankengebilde, die der metaphysische Realist vergisst! Dieses „geistige Band“ kann nur über das eigene Nacherleben – in der Selbsterkenntnis – geschaffen werden. Was sich in dieser Weise, der „Verstandesseele“ offenbaren kann, sind nur sehr eingeschränkte, fragmentierte Erkenntnisse, die sehr schnell auch in Verirrungen und Wirrnisse führen können, weil das verbindende Glied fehlt. Der Intellekt erfordert in diesem Sinne keine Erlebnisse, denn er kann auch ohne diese seine Schlüsse ziehen! Genauso wie die materielle Welt, die „Dinge an sich“, ebenso gut ohne unsere Erkenntnisse existieren können.

UW: Was muss denn heute getan werden, damit die Anthroposophie wieder den Faden aufnehmen kann, der verloren zu sein scheint?

RS: Der geistige Faden ist es, der wieder gefunden werden muss. Das heißt nicht weniger, als dass eine neue Erkenntnisstufe erreicht werden muss. Dazu ist aber dringend notwendig, dasjenige zu erreichen, was ich damals mit dem Begriff „Bewusstseinsseele“ in Verbindung gebracht habe. Es ist heute dringender denn je geworden, diesen Schritt wirklich und bedingungslos zu tun! Die Bewusstseinsseelenentwicklung in diesem Sinne verlangt zunächst Selbstbesinnung und dann Selbstbeobachtung. Das Zurückgehen von all den Inhalten und Gebilden, die man sich wie eine neue Sprache angeeignet hat, das Zurückgehen auf sich selbst, auf die Tätigkeit im eigenen Seelenleben, auf die Gedanken und Gefühle, die in jedem Menschen leben, konsequent zu beachten. Diese Art von Selbstbesinnung, wie ich sie auch in meiner „Geheimwissenschaft im Umriss“ damals beschrieben habe, ist der entscheidende Schlüssel auf dem Wege zum Erleben einer geistigen Realität. Alle andere Erfahrung ist stets umhüllt von den Vorstellungen und Gedankengebilden, die wir uns selbst auferlegt haben im Laufe unseres Lebens. Sie werden dem wissenschaftlichen Anspruch der geistigen Erkenntnis nicht gerecht und finden keinen rechten Boden auf der neu zu erwerbenden Stufe der Bewusstseinsentwicklung des Menschen

UW: Wenn das Wirken der Anthroposophie in diesem Sinne gefasst werden soll, dann stellt sich mir die dringende Frage nach einer Erneuerung der Bewegung und wie sie sich auf diese direkte Art und Weise diesen neuen Boden schaffen soll. Immerhin sind die Wurzeln tief im Boden der bloßen Ideenwelt bereits weit ausgetrieben.

RS: Die Wurzeln müssen auch dort tief verankert sein. Wenn daraus aber etwas entstehen soll, was die Sphäre der bloßen Ideenwissenschaft überwindet, dann muss das bereits Errungene zuerst völlig losgelassen werden. Das Wissen, welches angesammelt wurde und die festgefahrene, überfüllte, abstrakte Terminologie, muss neu aus jedem Menschen durch eigene Erlebnisse, geschaffen werden. Was als „geistiger Zusammenhang“ nur mit dem Verstande begriffen wird, jedoch jeglicher Erfahrung entbehrt, bildet nicht nur Schleier, sondern Krusten vor dem geistigen Schauen. Es verdeckt und verhüllt das Wesentliche und verhindert genau dasjenige, was gesucht werden will… (—.— längeres Schweigen)

UW: Doktor Steiner, Sie beschrieben in dem eben von Ihnen genannten Buch „Geheimwissenschaft im Umriss“ den Weg zu geistiger Erkenntnis so, dass Sie davon erzählten, die Dinge dieser geistigen Welt müssten zuerst geschildert werden, bevor man dort selbst durch eine meditative, spirituelle Schulung in rechter Weise eintreten könne. Es stand dort folgendermaßen geschrieben: „Wer, ohne auf bestimmte Tatsachen der übersinnlichen Welt den Seelenblick zu richten, nur „Übungen“ macht, um in die übersinnliche Welt einzutreten, für den bleibt diese Welt ein unbestimmtes, sich verwirrendes Chaos“. Das war ja auch der Grund, weshalb Sie den praktischen Teil in diesem Buch, das ja so etwas wie ein Gesamtüberblick der Anthroposophie darstellte, dem inhaltlichen, theoretischen Teil hinten anzustellen.

RS: Heute würde ich den Begriff „Geheimwissenschaft“ durch „Geisteswissenschaft“ ersetzen, also „Geisteswissenschaft im Umriss“ oder besser „Anthroposophische Geisteswissenschaft im Umriss“ Denn geheim ist im Grunde nichts darin. Es sind „offenbare Geheimnisse“, die sich durch das entsprechende Bewusstsein jedem erschließen können, der sich darum bemüht.
Doch nun zu Ihrer Frage: Diese Abfolge machte ich allerdings mit Bedacht. Liest man jenes Buch genauer, so wird man die Sache doch etwas differenzierter ansehen müssen. Der „theoretische Teil“, wie Sie es nennen, will eben bereits weit über dasjenige hinausgehen, was bloße Theorie im intellektuellen Sinne meint. Nicht darauf kommt es an, dass man den Inhalt nur gedanklich aufnimmt und als Wissen verwertet. Das genau tut im üblichen Sinne die Verstandesseele. Was für das praktische Leben durchaus sinnvoll und richtig ist, gilt nicht für das Aufnehmen der vorgetragenen übersinnlichen Inhalte. Vielmehr lebt sich der sich selbst gewahrende Geist im selbstbewussten Aufnehmen solcher Inhalte alleine durch das Mit-Denken erkennend und empfindend in den Inhalt ein. Das ist im Grunde schon der erste, aber sehr wichtige Schritt hin zur Geistesschulung. Auf diesem Weg werden Inhalte nicht dogmatisch übermittelt und weiter gegeben, wie man vielleicht meinen könnte. Vielmehr wird der Leser Miterkenner durch Selbstbesinnung. Dadurch wird nicht der Verstand angesprochen, ebenso wenig eine unterschwellige suggestive Ebene, sondern der sich selbst erkennende Mensch. So gesehen beginnt die Geistesschulung bereits in der Wahrnehmung der Welt.

Es folgen weitere Teile…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Rudolf Steiner und die Kunst

RSRudolf Steiner (1861-1925), der Begründer einer anthroposophischen Bewegung, hat in seinem Lebenswerk der Kunst einen außerordentlich großen Wert beigemessen. Er gab in allen Bereichen des künstlerischen Schaffens sehr starke Impulse, die sich aus der Optik der anthroposophischen Weltanschauung heraus ergeben.

So initiierte er eine neue „Bewegungskunst“, die er „Eurhythmie“ nannte, oder er gab wesentliche Impulse für die Malerei, die Skulptur oder in der Architektur. Ähnlich auch in der darstellenden Kunst oder in der Sprachkunst. Auch in den Waldorfschulen wird auf die künstlerischen Fächer grosses Gewicht gelegt. Im Bau des ersten Goetheanums, welcher in Dornach bei Basel im Jahre 1913 begonnen wurde, verwirklichte Steiner eine Art Gesamtkunstwerk, das weit über die Grenzen hinaus viel Beachtung und viel Erstaunen, aber auch viele Neider fand. Es fiel in der Nacht vom 31. Dezember 1922 auf den 1. Januar 1923 – noch unvollendet – einem Brand zum Opfer und wurde in der Folge als einer der ersten Betonbauten der Schweiz wieder neu aufgebaut und erst Ende der 1920er Jahre vollendet.

In seiner Schrift „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“, die er bereits 1886 (im Alter von 25 Jahren!) verfasste, zeichnete er ein sehr klares und grundlegendes Bild eines Kunstbegriffs auf, wie er aus der goetheschen Anschauung heraus erfasst werden müsste. Er beschrieb die unterschiedlichen Erkenntnismethoden von Wissenschaft und Kunst, die sich aber beide um ein und dieselbe, umfassende Kraft bewegen.

So stelle die wissenschaftliche Erkenntnis ihre Forschung auf die Ideenwelt, welche die verschiedenen Ebenen eines Umfassenden beschreibe und zu entdecken suche. Die Kunst ihrerseits suche dieses Umfassende nicht in der Idee, sondern in der unmittelbaren Darstellung zu verwirklichen. Die Idee, welche sich in der Wissenschaft als rein geistiges Medium äußere, werde in der Kunst zu einem realen, wahrnehmbaren, sichtbaren, der sinnlichen Welt zugänglichen Objekte. In der genannten Schrift heißt es dazu:
„Jeder Gegenstand der Wirklichkeit stellt uns eine von den unendlichen Möglichkeiten dar, die im Schoße der schaffenden Natur verborgen liegen. Unser Geist erhebt sich zur Anschauung jenes Quells, in dem alle diese Möglichkeiten enthalten sind. Wissenschaft und Kunst sind nun die Objekte, denen der Mensch einprägt, was ihm diese Anschauung bietet. In der Wissenschaft geschieht es nur in der Form der Idee, das heißt in dem unmittelbar geistigen Medium; in der Kunst in einem sinnenfälligen oder geistig wahrnehmbaren Objekte. In der Wissenschaft erscheint die Natur als «das alles Einzelne Umfassende» rein ideell; in der Kunst erscheint ein Objekt der Außenwelt dieses Umfassende darstellend. Das Unendliche, das die Wissenschaft im Endlichen sucht und es in der Idee darzustellen sucht, prägt die Kunst einem aus der Seinswelt genommenen Stoffe ein. Was in der Wissenschaft als Idee erscheint, ist in der Kunst Bild. Es ist dasselbe Unendliche, das Gegenstand der Wissenschaft wie der Kunst ist, nur daß es dort anders als hier erscheint. Die Art der Darstellung ist eine verschiedene.“

Die Kunst ist nun aber nicht einfach eine Übersetzerin der Idee, wie sich dies in einer Symbolhaftigkeit darstellen kann, sondern eine Vermittlerin einer umfassenden Kraft, in die sich der Schaffende selbst hineinzustellen vermag. Es ist also nicht die Idee (als wissenschaftliches Ergebnis) die sich nun bildhaft Ausdruck zu verschaffen sucht, sondern etwas viel Substantielleres gemeint:
„Hier zeigt sich, wie der wahre Künstler unmittelbar aus dem Urquell alles Seins schöpfen muss, wie er seinen Werken das Notwendige einprägt, das wir ideell in Natur und Geist in der Wissenschaft suchen. Die Wissenschaft lauscht der Natur ihre Gesetzlichkeit ab; die Kunst nicht minder, nur dass sie die letztere noch dem rohen Stoffe einpflanzt. Ein Kunstprodukt ist nicht minder Natur als ein Naturprodukt, nur dass ihm die Naturgesetzlichkeit schon so eingegossen wurde, wie sie dem Menschengeist erschienen ist.“

Die Verwechslung dieser zwei Grundhaltungen ist sehr groß und muss deshalb klarer dargestellt werden. Wenn uns in einer wissenschaftlichen Forschung, die wir z.B. in der Pflanzenwelt getätigt haben, aus der Beobachtung heraus, eine Kraft entgegenkommt, welche sozusagen die Einzelteile der Pflanze – also angefangen mit den Zellen, den Wurzelelementen, den Stängeln, den Blättern und den Blüten usw. – umfasst und zusammenfasst in einer Gattung, einer Gruppe usw., dann haben wir ideell (also rein mental, nicht stofflich!) sondern ganz substanzlos etwas Übergeordnetes entdeckt. Dieses Übergeordnete können wir nun benennen, ihm einen Namen geben, wir können Gesetzmäßigkeiten aufstellen wie jenes Ganze alle Pflanzengattungen zu umfassen vermag.

So können wir in allen Pflanzen Wurzeln, Stängel, Blüten und Blätter finden. Sie werden sich zwar nicht immer sofort zu erkennen geben und – wie im Falle der Kakteen – vielleicht sogar ganz anders ausgestalten, als wir es gewohnt sind. Dennoch können wir die Idee der Pflanze in allen Pflanzenarten und Gattungen wieder finden. Wir könnten dieses Umfassende mit Goethe die Urpflanze nennen, aber wir würden keine solche ideelle Urpflanze irgendwo auf der Welt physisch vorfinden, weil sie nicht physisch vorfindbar ist. Sie bleibt immer und ewig ein rein geistiges „Gebilde“. Dieses ist von jedem Menschen im Geist, als Idee, zwar „auffindbar“ und nachvollziehbar, aber niemals physisch-sinnlich anwesend.

Die Wissenschaft könnte eine solche Urpflanze, wie sie sich ideell auffinden lässt, ebenso aber auch viele andere Entdeckungen in der mineralischen Welt, der Tierwelt oder beim Menschen, immer bildhaft zu Papier bringen, sie symbolisch, zeichnerisch oder sogar als Modell darstellen. Aber dennoch ist das noch nicht derselbe Vorgang, wie er von Steiner als der künstlerische bezeichnet wird.

Der Künstler erlebt, nach Steiner, sozusagen die umfassende Kraft (gemäss unserem Beispiel die Urpflanze) in sich selbst: wesenhaft sozusagen. Dieser Vorgang geht aber über die reine Idee hinaus! Währenddem die Idee sozusagen aus den Einzelteilen der sinnlichen Welt und aus der Wahrnehmung von Zusammenhängen etwas Verbindendes „erblickt“, „entdeckt“ und dieses in Begriffe giesst, geschieht im künstlerischen Prozess etwas anderes. Der Künstler vertieft sich in das Pflanzenwesen, z. B. einer Rose, und erlebt dort gewissermaßen das Rosenhafte selbst. Er bildet in sich das rosenhafte Erlebnis um – und gestaltet es neu als Bild! Dieses Bild nun enthält vielleicht äußerlich keinerlei Übereinstimmungen mit der physischen Rose, aber dennoch kann man das Rosenhafte darin wieder finden.
„Die großen Kunstwerke, die Goethe in Italien sah, erschienen ihm als der unmittelbare Abdruck des Notwendigen, das der Mensch in der Natur gewahr wird. Ihm ist daher auch die Kunst eine Manifestation geheimer Naturgesetze.“

Dies geschieht durch einen freien Umgang mit Farben, Formen und anderen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Auch wenn ein gemaltes Bild nun nicht eine Rose darstellt, so wird der geschulte (künstlerische) Blick darin dennoch etwas von dieser Rose wieder finden können. So könnten wir ebenso in den Bewegungen unseres Körpers, mit den Armen, den Beinen, der Gestik und Mimik, dieses rosenhafte zum Ausdruck bringen, wie der Maler es mit Farben und Formen macht. Was hier, mit der Rose als Beispiel, erklärt wurde, kann selbstverständlich in alle Bereiche des Lebens übersetzt und eingegliedert werden. Dies gilt ebenso für die ganze sinnlich-sichtbare Welt, wie auch durchaus für nicht sinnlich-sichtbare Wahrnehmungs-„objekte“ wie sie bei Emotionen und Gefühlen auftreten. Der Inhalt eines Kunstobjektes kann ebenso die Traurigkeit, wie auch Freude, Wut, das Glück oder die Liebe sein…

So können sich Kunst und Wissenschaft durchaus gegenseitig befruchten und ergänzen. Dies geschieht aber nicht dadurch, dass die Ideen der Wissenschaft lediglich in ein symbolhaftes oder erklärendes Bild hinein gegossen oder abstrahiert würde, sondern dadurch, dass sich das Wesenhafte der Idee in neuer Art und Weise versinnlichen kann. Damit wird der Idee eine neue, belebte und wesenhafte Gestalt gegeben, die dem Wissenschaftler nicht zugänglich ist.„Überwindung der Sinnlichkeit durch den Geist ist das Ziel von Kunst und Wissenschaft. Diese überwindet die Sinnlichkeit, indem sie sie ganz in Geist auflöst; jene, indem sie ihr den Geist einpflanzt. Die Wissenschaft blickt durch die Sinnlichkeit auf die Idee, die Kunst erblickt die Idee in der Sinnlichkeit.“

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Begegnung mit Martin Buber

Martin BuberEine fiktive Geschichte… Mai 1935: Ich stand vor der großen hölzernen Türe eines alten, ehrwürdigen Hauses im 3. Wiener Bezirk. Das Herz klopfte in mir. Gespannt auf seine Erscheinung. Gespannt auf sein Wesen, auf die Gestalt, auf sein Sinnen. Ich zog behutsam an der Glocke und wartete einige bange Sekunden. Da öffnete sich die Tür. Erwartungsvoll erblickte ich eine Hausangestellte, die mich freundlich empfing. Ich sagte, ich sei Kaspar Volkelt und hätte mich bei Herrn Buber für heute angemeldet. Die Frau verschwand einen kurzen Augenblick im Dunkel des Flurs. Nur wenig später erschien er, der Mann, von dem ich so viel gelesen, so viel berichtet und so viel gehört hatte. Ein Mann, dem ich vieles zu verdanken hatte und der für mich so etwas wie mein Meister wurde: Martin Buber.

Unscheinbar, freundlich und warmherzig begrüsste er mich und bat mich einzutreten. Seine gütigen Augen, der weisse lange, etwas struppelige Bart und sein durchgeistigter Blick faszinierten mich. Ich folgte ihm in sein Studierzimmer und setzte mich auf den angebotenen etwas abgewetzten Barockstuhl, der sich gleich hinter seinem bescheidenen Schreibtisch befand. Ich wunderte mich darüber, wie wenig Bücher sich in diesem Zimmer befanden. Nur auf einem kleinen Holzgestell standen einige Werke. Der Schreibtisch hingegen war voll von kleinen Notizzetteln und Papierstreifen. Dazwischen lagen einige alte Zeitungsausschnitte.

Buber zog einen Stuhl herbei, setzte sich mir gegenüber und schaute mit leichtem Schalk in mein Gesicht: Bitte, Herr Volkelt, begann er mit einem warmen, ruhigen Ton – stellen Sie Ihre Fragen. Ich höre Ihnen gerne zu…
Noch etwas unsicher, durch seine Wärme und seine geistige Präsenz aber inspiriert, begann ich zu sprechen: Ich habe Ihre Texte wieder und wieder gelesen, Herr Buber. Ich bin ein grosser Verehrer von Ihnen und möchte einige Fragen zur Kunst stellen, die mich schon lange beschäftigen.
Bitte! – Herr Buber forderte mich mit einer Handbewegung dazu auf.
In Ihrem Buch „Ich und Du“ habe ich folgende Stelle gelesen, die ich Ihnen gerne erst vorlesen möchte. Sie schreiben über das Suchen: – „Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat“. – Wie muss ich das verstehen, was ist mein wahres Wesen?
Buber, nickend, nach einer Bedenkpause: Das Du begegnet mir. Aber ich trete in die unmittelbare Beziehung zu ihm. So ist die Beziehung Erwählt werden und Erwählen, Passion und Aktion in einem. Wie denn eine Aktion des ganzen Wesens, als die Aufhebung aller Teilhandlungen und somit aller – nur in deren Grenzhaftigkeit gegründeter – Handlungsempfindungen, der Passion ähnlich werden muß. Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nie durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung!
Ich fragte ihn: Muss ich diesen Gedanken nur dem Menschen gegenüber, der mir als Du begegnet, in dieser Weise auffassen, oder ist damit alles gemeint, was mir im Leben begegnet und entgegentritt?
Buber besann sich einen kurzen Augenblick. Er senkte seinen Kopf, schien ganz in sich zu gehen , blickte dann zu mir auf und ein freudiges Gesicht blickte mich jetzt sanft und wohlwollend an: Das ist der ewige Ursprung der Kunst, nach dem Sie da fragen, daß einem Menschen Gestalt gegenübertritt und durch ihn Werk werden will. Keine Ausgeburt seiner Seele, sondern Erscheinung, die an sie tritt und von ihr die wirkende Kraft erheischt. Es kommt auf eine Wesenstat des Menschen an: vollzieht er sie, spricht er mit seinem Wesen das Grundwort zu der erscheinenden Gestalt, dann strömt die wirkende Kraft, das Werk entsteht.
Also ist das Werk ebenso lebendig wie ein Baum, ein Mensch, ein Tier? – fragte ich ihn, nachdem er seine Gedanken zu Ende geführt hatte.
Buber fuhr fort: Die Tat umfaßt ein Opfer und ein Wagnis. Das Opfer ist: Die unendliche Möglichkeit, die auf dem Altar der Gestalt dargebracht wird; alles, was eben noch spielend die Perspektive durchzog, muß ausgetilgt werden, nichts davon darf ins Werk dringen; …so will es die Ausschließlichkeit des Gegenüber. Das Wagnis: Das Grundwort kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden; wer sich drangibt, darf von sich nichts vorenthalten; und das Werk duldet nicht, wie Baum und Mensch, daß ich in der Entspannung der Es-Welt einkehre, sondern es waltet: – diene ich ihm nicht recht, so zerbricht es, oder es zerbricht mich. Die Gestalt, die mir entgegentritt, kann ich nicht erfahren und nicht beschreiben; nur verwirklichen kann ich sie. Und doch schaue ich sie, im Glanz des Gegenüber strahlend, klarer als alle Klarheit der erfahrenen Welt. Nicht als ein Ding unter den »inneren« Dingen, nicht als ein Gebild der »Einbildung«, sondern als das Gegenwärtige. Auf die Gegenständlichkeit geprüft, ist die Gestalt gar nicht »da«; aber was wäre gegenwärtiger als sie? …und wirkliche Beziehung ist es, darin ich zu ihr stehe: sie wirkt an mir wie ich an ihr wirke.
Buber drehte den Kopf zum Fenster. Dort erhob sich gerade ein Sonnenstrahl zwischen den Wolkenbändern und drang in unser Zimmer. Die herbstliche Farbenwelt durchflutete jetzt den ganzen Garten, den man von hier aus gut sehen konnte. Von dort schienen seine Gedanken herein zu strömen:
Schaffen ist Schöpfen, sprach er – Erfinden ist Finden. Gestaltung ist Entdeckung. Indem ich verwirkliche, decke ich auf. Ich führe die Gestalt hinüber – in die Welt des Es. Das geschaffene Werk ist ein Ding unter Dingen, als eine Summe von Eigenschaften erfahrbar und beschreibbar. Aber dem empfangend Schauenden kann es Mal um Mal leibhaft gegenübertreten.
So hatte er meine Frage erschöpfend geklärt… Als ich ihm zum Abschluss für das Gespräch dankte, begleitete er mich zur Türe und gab mir ein Zettelchen in die Hand, welches ich für mich zuhause lesen solle. Ich dankte ihm und verabschiedete mich.
Zuhause angekommen öffnete ich das gefaltete Papierstreifchen und las es laut vor mich hin:

Was erfährt man also vom Du? Eben nichts. Denn man erfährt es nicht. Was weiß man also vom Du? Nur alles. Denn man weiß von ihm nichts Einzelnes mehr…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Sigmund Freud und die „geistige Wende“

libidoWenn wir in die Zeit um die Jahrhundertwende des vergangenen Jahrhunderts zurückschauen, können wir nach drei Seiten hin mächtige kulturelle und gesellschaftliche Impulse erleben.

Der erste große Impuls wirkte sich in der Kunstszene aus. Der Impressionismus und später der Expressionismus sind wichtige Zeugen davon. Eine zweite große Welle entstand als ein anderer mächtiger gesellschaftlicher Impuls in der Psychoanalyse. Namen wie Sigmund Freud und später C.G. JungAlfred Adler, und andere; sie trugen ebenfalls zu einer weitreichenden und wichtigen Entwicklung bei. Der dritte große Impuls schließlich war spiritueller Art und verwirklichte sich u.a. in der theosophischen Bewegung und etwas später durch die aus dieser heraus entstehenden anthroposophischen Bewegung.

Alle drei Impulse standen einander – nicht inhaltlich, aber zeitlich – sehr nahe. Die Aufbruchstimmung jener Zeit war auch gleichzeitig eine Bewusstseins-Revolution. Das florierende Industriezeitalter war über seinen Zenit gelangt und die Menschen standen vor ähnlich grundlegenden Fragen wie heute. Sigmund Freud und die Psychoanalyse waren eine Revolution in instabilen wirtschaftlichen Verhältnissen. Der erste Weltkrieg und die darauf folgende globale große Krise der Dreißiger veränderten die Strukturen der Gesellschaft von Grund auf.

C.G. Jung, damals ein wichtiger Schüler und Freund Sigmund Freuds, schrieb in seinem Buch: „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ über Freud folgendes: „Vor allem schien mir Freuds Einstellung zum Geist in hohem Maße fragwürdig. Wo immer bei einem Menschen oder in einem Kunstwerk der Ausdruck einer Geistigkeit zutage trat, verdächtigte er sie und ließ «verdrängte Sexualität» durchblicken. Was sich nicht unmittelbar als Sexualität deuten ließ, bezeichnete er als «Psychosexualität». Und an anderer Stelle heißt es: „Ich erinnere mich noch lebhaft, wie Freud zu mir sagte: «Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.» Das sagte er zu mir voll Leidenschaft und in einem Ton, als sagte ein Vater: «Und versprich mir eines, mein lieber Sohn: geh jeden Sonntag in die Kirche!» Etwas erstaunt fragte ich ihn: «Ein Bollwerk – wogegen?» Worauf er antwortete: «Gegen die schwarze Schlammflut -» hier zögert er einen Moment, um beizufügen: «des Okkultismus.» Zunächst war es das «Bollwerk» und das «Dogma», was mich erschreckte; denn ein Dogma, d. h. ein indiskutables Bekenntnis, stellt man ja nur dort auf, wo man Zweifel ein für alle Mal unterdrücken will. Das hat aber mit wissenschaftlichem Urteil nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit persönlichem Machttrieb“.
Für C.G. Jung war diese Begegnung ein „…ein Stoß, der ins Lebensmark unserer Freundschaft traf“. So eng die Freundschaft dieser beiden Größen auch war, so verschieden war ihre Auffassung der Libido-Theorie, wie sie von Freud als „Bollwerk“ gegen die „Schlammflut des Okkultismus“ proklamiert wurde. Was hat nun aber diese Auffassung Freuds für Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein?

Freud reduziert den Menschen auf die eine, allmächtige Urkraft der Libido. Für ihn gab es keine spirituelle Entwicklung, wie sie z.B. von C.G. Jung angestrebt wurde. Es gab für ihn auch nie so etwas, wie keine höhere, „göttliche Kraft“ im Menschen. Alles, was in ihm zum Ausdruck gebracht wurde, war die pure Energie der Sexualität. Die gesamte psychische Struktur eines Menschen findet, nach Freud, dort ihren Ursprung.

Das atheistische, auf rein physikalische Vorgänge reduzierte Menschenbild ist die Grundkraft für viele andere, auch neuere Anschauungen geworden. Sie zeigen sich auch heute wieder in der bildenden und in der darstellenden Kunst. Man wird den Eindruck nicht los, dass selbst die großen Klassiker des Theaters von Goethe, Shakespeare oder Schiller usw. im Wesentlichen auf eine psychosexuelle Ebene reduziert werden.

Freud hat aber mit seiner Libido-Theorie auch noch andere gesellschaftliche Auswirkungen zu verantworten. Wie soll unter diesen Vorzeichen die Sinnfrage für ein neues Bewusstsein oder auf die Selbst-Reflexion hin beantwortet werden und damit Anreiz für eine persönliche innere Entwicklung jedes Einzelnen angestrebt werden, wenn solche innere Entwicklung bloß auf die sexuelle Energie reduziert wird? Doch die Zeichen häufen sich, dass die Werte wieder tiefer greifen und der spirituelle Hintergrund des Daseins einen neuen, gesünderen und sozialeren Aufschwung erfährt. Nicht zuletzt die Quantenphysik und die moderne, neurologische Forschung stellen vieles unter ein neues Licht. Die Wurzeln unserer Herkunft, welche für Freud noch an die engen Ketten der Sexualität und des Ödipus gebunden waren und sich nur auf die Kindheit ausgerichtet haben, werden von neuem Bewusstsein freigelegt und neu definiert.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Drei geniale Schweizer

Gotthardpass
Gotthardpass

Schweiz, Anfang des 19. Jahrhunderts. Immer wieder gab es, wie auch in dieser Zeit, schillernde und herausragende Persönlichkeiten, die entscheidendes geleistet haben. Mag man heute dies oder jenes Urteil über diese Menschen haben, so muss man dennoch ihre großartigen, oft wagemutigen und selbstlosen Leistungen unverhohlen anerkennen. Damals gab es drei, die letzthin in Sat 3 vorgestellt wurden: Henry Dufour, Henry Dunant und Alfred Escher. Ohne den ersten gäbe es die Schweiz in der heutigen Form wohl nicht mehr. Der zweite lebte für eine Idee, die damals als vollkommen unrealistisch und idealistisch gegolten hat: Das „Rote Kreuz“. Und ohne den dritten wären der Gotthardtunnel und das Eisenbahnnetz, wie es heute noch besteht, sowie die internationale Anbindung der Schweiz, an den Rest Europas, wohl verloren gegangen.

Alle drei Männer haben sich gegen größten Widerstand und unter Gefährdung ihrer Gesundheit, oder gar ihres Lebens, für eine Sache eingesetzt. Und alle haben dabei den Ruhm ihrer Leistungen anderen überlassen müssen. Henry Dufour war Ingenieur, riss viele Mauern ab, plante und baute dafür sein Leben lang Brücken und vermass die ganze Schweiz, sodass auch heute noch erstklassiges Kartenmaterial vorhanden ist. Nach ihm wurde der höchste Berg Europas, die Dufourspitze, benannt. Er wurde zudem als Oberst der Tagsatzungsarmee, im Sonderbundkrieg 1847, als General eingesetzt. Dieser Krieg, der geprägt war von der Auseinandersetzung einer liberalen Schweiz gegen eine mächtige innerschweizerische, katholische Verschwörung, hatte das Potential, dieses Land zu zerreißen und anderen Mächten zu überlassen. Dass Dufour es schaffte, den Krieg zu seinen Gunsten zu entscheiden und sämtliche Sonderbundkantone kapitulierten, war nur aus seiner tiefen menschlichen Haltung seiner verfeindeten Brüder auf der anderen Seite gegenüber, zu verdanken. Denn er wollte mit seiner Kriegsführung möglichst wenig Blut vergießen, weil er sich selbst mit dem Feind menschlich verbunden fühlte. Sein oberstes Ziel war die Wiedervereinigung aller Kantone und somit der Weiterbestand der Schweiz. Selbst gegen den größten Widerstand seiner eigenen höchsten Offiziere, hielt er Angriffsbefehle zurück, versuchte lediglich den Gegner sozusagen „Schachmatt“ zu stellen, ihn zu umstellen, so dass dieser kapitulieren musste. Dies gelang ihm in fast schon genialer Art und Weise. Nur wenige Menschen starben in diesem, nur wenige Wochen dauernden, Bürgerkrieg. Die Folge war nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch ein verstärktes Zusammenstehen aller Kantone. Als Folge gelang es 1848, aus dem Staatenbund einen Bundesstaat Schweiz zu begründen.

Der zweite, Henry Dunant, ebenfalls in Genf geboren, wie Dufour, wuchs in einer begüterten Familie auf und erlebte bereits in Algerien und später in Norditalien viel Leid, als Napoleon III in der Schlacht von Solferino mit den Franzosen gegen die Österreicher kämpfe. Dunant kam dort in ein Lazarett und erlebte, wie von Kanonen zerrissene Soldaten und Zivilisten beider Kriegsparteien, um ihr Überleben kämpften. Er pflegte und unterstützte, unter schwersten Bedingungen, den Arzt, ohne jede medizinische Kenntnis, jedoch mit größter menschlicher Anteilnahme. Seine Briefe und Berichte, die er einer Freundin in Genf schickte, verbreiteten sich mit deren Hilfe schlagartig über die Genfer Presse in alle Welt, sodass das Tabu unmenschlichster Kriegsführung gebrochen wurde und ans Tageslicht kam. Dunant erntete nicht nur Unmut, sondern geriet in größte Not, und dies nicht nur von Seiten der Feinde, sondern auch von vielen Freunden und von seinen Familienmitgliedern. Sein Vorgehen war für diese so etwas, wie ein politischer Verrat. Gegen die größten Widerstände schrieb er ein Buch, welches schnell in ganz Europa gelesen, ebenso gelobt, wie auch zerrissen wurde. Um die Verletzten aus dem, nun noch stärker von den Franzosen kontrollierten, Lazarett zu bringen, zeichnete er mit seiner blutverschmierten Hand ein großes rotes Kreuz auf die weißen Laken der Kranken. Dunant verstand das Lazarett nie als Gefangenenlager, sondern als Krankenlager für Menschen in Not, egal, welcher Kriegspartei sie angehörten und er konnte nicht verstehen, dass man keine Mittel zur Hilfe bereitstellen wollte. Mit diesem Blutkreuz auf weißem Leinen als Fahne, ritt er mit einem Zug Kriegsverletzter, Pflegern und Zivilisten, voran, und durchquerte so die heißen Feuergefechte einer tobenden Schlacht. Beide Parteien stellten ihre Waffen sofort beiseite als sie die sich nähernde Kolonne mit den roten Kreuzen, dem christlichen Symbol beider, sahen und ließen die Menschen passieren! Aus dieser waghalsigen und wagemutigen Initiative entstand nach langen Wirren und Diskussionen schließlich das internationale rote Kreuz, als kriegsneutrale Organisation, welche von allen Staaten Europas unterzeichnet wurde.

Alfred Escher schließlich, der dritte im Bunde, war von der Idee befeuert, einerseits die von den Alpen getrennten, schweizerischen Regionen miteinander zu verbinden. In ganz Europa entstand in jener Zeit ein großes Netzwerk von Eisenbahnen.  Die Schweiz drohte mit seiner einzigen Linie (von Baden nach Zürich), langsam aber sicher, ins Abseits zu geraten. Wozu brauche man denn Eisenbahnen, beschwor vor allem wieder die ländliche Bevölkerung. Bauern und Konservative stellten sich massiv dagegen und verstanden nicht, was ihnen das Ganze bringen würde. Escher kämpfte, mit seinem damaligen Tessiner Freund, Bundesrat Stefano Franscini, um die Idee einer Verbindung vom Norden in den Süden der Schweiz und damit einer Verbindung, die die Schweiz wieder ans internationale Netz anbinden konnte. Es sollte der längste Tunnel der Welt werden! Escher war überzeugt von der Möglichkeit der Realisierung seines Projektes und konnte schließlich auch das Parlament in Bern davon überzeugen. Den Zuschlag erhielt ein gewisser Louis Favre aus Genf. Der versprach, das Projekt in 8 Jahren und zum tiefsten Preis aller Gebote, zu realisieren. Zuvor entstanden schon andere wichtige Bahnverbindungen im Land, für die sich Escher einsetzte. Escher wollte bezüglich Gotthard nicht von ausländischen Banken kontrolliert werden und gründete, ohne jede Kenntnis des Bankenwesens, in Zürich am Paradeplatz, eine kleine Bank. Auch eine Versicherungsanstalt stellte er eigens dafür auf die Beine. Beides, um die Fäden einer später gegründeten Gotthardgenossenschaft, in den landeseigenen Händen zu behalten. Sowohl die Bank, wie auch die Versicherungsgesellschaft  entwickelten sich bis heute zu weltweit renommierten Institutionen mit Namen „Credit Suisse“ und „Swiss Re“. Auch Escher musste später im Alter zusehen, wie ihm das Projekt aus den Händen glitt. Zum einen, weil sich Favre in den Kosten verschätzt hatte, was dann fast zum Stillstand des Projektes führte. Und zum anderen, weil dieser kurz darauf, an Herzversagen, verstarb. Der Bau konnte in letzter Not und nur dadurch weitergeführt werden, weil sich Alfred Escher, mit Druck von aussen, erst aus der Bank und dann auch aus dem Präsidium der Gotthardgesellschaft zurückgezogen hatte. Die Einweihung seines Lebenswerks fand schließlich ohne ihn statt. Er wurde nicht dazu eingeladen! Bundesrat Emil Welti, dem Escher selbst zu seinem Amt verholfen hatte, erntete stattdessen die Lorbeeren.

Die drei biografischen Skizzen haben bei mir einen extrem starken Eindruck hinterlassen. Wie auch immer das politische Urteil dieser Männer aussehen mag, es gibt Dinge, die ich jenseits der Grenze des Beurteilers anerkennen muss. Das eine ist die hohe moralische Kompetenz und das Eintreten für eine menschlichere Welt, welche von allen drei Männern gelebt wurde. Und das andere ist die Fähigkeit, sich in ein Fachwissen und in Verhältnisse einzuarbeiten, auch wenn man darin keinerlei Vorkenntnisse hatte. Sowohl Alfred Escher, wie auch Henry Dunant hatten in den Projekten, für welche sie all ihre Kraft und, man kann wohl sogar sagen, ihr Leben opferten, keinerlei „Professionalität“! Beide arbeiten sich „nur“ aus der Kraft der Begeisterung heraus in die Thematik ein. Sie schufen letztlich Werke, die ihren Einfluss bis in die Gegenwart nachhaltig prägen. Auch Henry Dufour war nicht als General ausgebildet worden. Er erlangte dieses Amt als Oberst einer Milizarmee. Als Ingenieur war er in einem ganz anderen Bereich ein „Profi“. Und dennoch zeigte er in der besagten Situation geniale Fähigkeiten.

Was mich in diesem Zusammenhang insbesondere immer wieder beschäftigt, ist die Frage nach der Bildung. Man beschwört gerne immer wieder die notwendige „Professionalität“ und beharrt in der Beurteilung auf angelernten, studierten, schulischen Kompetenzen. Nur solche Fähigkeiten können, so sagt man, darüber entscheiden, ob jemand imstande ist, eine Aufgabe, was immer es auch sei, zu erfüllen.

Es gibt noch viel mehr Beispiele, als die drei angeführten, die belegen könnten, dass solche Professionalität auch ein Hemmschuh sein kann, um zu wirklich genialen Lösungen zu kommen. Alles, was ich mir an Inhalten aneignen, einstudieren und anlesen kann, mögen wichtige Bausteine und Fertigkeiten sein. Wie oft ist es jedoch so, dass wir im Schulalltag schlicht zu wenig Motivation verspüren, um die nötige Tiefe des Erlernten auszuloten. Umgekehrt kennen wir alle wohl die Situation, wie schnell man lernt, wenn man mit Feuer und Interesse bei einer Sache ist. Die Titel, die wir, oft stolz, durch unser Leben tragen, haben oft nicht mehr wert, als dass sie Freischeine für manche hochdotierten Stellen bedeuten. Ob die Doktorarbeit selbst erdacht, oder bloß ein Plagiat ist, ändert daran auch nicht wirklich viel. Das Papier, welches meine Fähigkeiten ausweist, ist im besten Fall ein gutes Fundament, um in mein Berufsleben einzusteigen. Im Laufe der Jahre kommen Aufgaben an uns heran, die wir nie in einer Schule simuliert haben. Das Erlernte hilft in komplexen Themen oft wenig. Erst das Durchdringen der Aufgabe mit einem aus den Erfahrungen des Lebens geschaffenen Grundverständnis, öffnet die Tore für das Neue, Unbekannte. Eine Kraft, die Intuition genannt werden kann. Aus ihr gebiert die Genialität. Mag es noch so verschroben sein, wenn wir ein Loch durch 15 km Granit-Gestein bohren wollen, damit die Züge einst hindurch fahren können; nichts ist unmöglich, wenn es auch von den meisten Menschen im Vorfeld als verrückt bezeichnet wird.

Urs Weth, Autor von: Selbstreflexion als soziale Kernkompetenz und andere Bücher…

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