Blicke hinter die Kulissen der Persönlichkeit

KettenWie eng Wahrnehmung und Denken miteinander verknüpft sind, wird üblicherweise nicht bemerkt. Denn das Bewusstsein ist in der Regel außer Stande, den Ablauf eines Erkenntnisprozesses mitzuverfolgen.

Heute sah ich auf der Fahrt zur Arbeit, die ich jeden Morgen mit dem Fahrrad unternehme, am Himmel einen kleinen dunklen Fleck. Innerhalb des kleinsten Zeitraums schaltete sich für mein Empfinden, zeitgleich mit der Wahrnehmung, der Gedanke an ein Flugzeug ein und verband sich mit dem Objekt. Was objektiv nichts anderes war als ein dunkler Fleck, wurde von mir sofort mit einem Begriff belegt. Ebenfalls praktisch zeitgleich stellte sich in mir das Gefühl „groß“ ein. Das heißt, ich empfand dieses Objekt am Himmel sehr groß, weil es von meinem Bewusstsein mit dem Gedanken „Flugzeug“ gekoppelt wurde und ich im Nu die entsprechenden proportionalen Verhältnisse konstruiert und interpretiert hatte. Ein Flugzeug am Basler Himmel ist sicher keine Seltenheit. Deshalb ist dieser Gedanke zunächst auch nicht abwegig. Schnell stellte sich durch die Art der Bewegung des Objektes heraus, dass es ein Vogel war und kein Flugzeug. Unmittelbar veränderte sich die Empfindung „groß“ um in „klein“.

Dies alles passierte in kürzester Zeit, das heißt im Bruchteil einer Sekunde. Alle diese Vorgänge in meinem Kopf geschahen zudem automatisch und ohne die Kontrolle meiner Selbst. Das Geschehen wäre völlig uninteressant in die Anti-Annalen meiner persönlichen Geschichte eingegangen, zusammen mit tausenden von ähnlichen Erlebnissen, die sich durch den Tag hindurch daran angeschlossen hätten, wenn nicht… ja was? Wenn dieser kleine Einblick nicht durch ein anderes, wacheres Bewusstsein erfolgen konnte, welches sich ganz unverhofft im Hintergrund einschaltete.

Die Abläufe von Wahrnehmung und Denken finden in der Regel im Dunkel des Unbewussten statt. Dabei schalten sich Vorgänge in das (Un-) Bewusstsein ein, die sich aus unserer Vergangenheit und aus den Gewohnheiten und Vorstellungen, welche wir, bis in die neuronalen Strukturen des Gehirns hinein, daraus gebildet haben. Dies zu bemerken ist für die meisten Gedanken dieser Art nicht möglich. Deshalb werden sehr oft auch Handlungen eingeleitet, die aufgrund solcher Wahrnehmung-Gedanken-Empfindungsketten erfolgen und dadurch nicht vollbewusst sein können.

Gewiss, nicht jeder hätte mit dem Objekt den Gedanken „Flugzeug“ verbunden. Manche hätten auch gleich den Vogel „gesehen“. Andere hätten schon gar nicht an den Himmel geschaut, oder wiederum andere hätten vielleicht an ein UFO gedacht. Je nachdem wie herum diese Ketten verbunden sind und welche Erfahrungen damit zusammenhängen, würde jeder und jede für sich etwas anderes darin sehen. Dies, obwohl es bestimmt Grenzen gibt, die das normale Verhalten überschreiten, zum Beispiel, wenn jemand mit dem dunklen Fleck den Begriff „Schwein“ verbunden hätte. Die aus den Erlebnissen gebildeten Interpretationen spielen eine ebenso wichtige Rolle und diese können durchaus bis ins Pathologische gehen. Der berühmte „Rorschach Test“ in der Psychiatrie und viele andere Wahrnehmungsphänomene, dokumentieren diesen Vorgang  deutlich.

Die meisten von uns würden jedoch kaum davon berichten können, was sich unbewusst ununterbrochen abspielt, weil sich solche Wahrnehmungen sofort wieder im Dunkel des Purgatoriums verlieren. Sie schaffen es meist gar nicht bis an die Oberfläche des Wachzustands.

Wie gesagt, allein auf der halbstündigen Fahrt von Weil nach Basel werden es vermutlich hunderte von solchen kleinen „Erlebnissen“ gewesen sein, die mir begegneten, ohne dass ich jetzt noch davon Kenntnis hätte. Einiges bleibt hängen. Meistens sind es Dinge oder Ereignisse, die eine kleine Schockwirkung hervorrufen, ein Auto, was von links auf uns zu fährt, oder sonst irgendwelche besonders auffälligen Dinge.

Unser waches Bewusstsein ist auf „Sensation“ und weniger auf „Intuition“ ausgerichtet. Alles andere als Sensation ist so langweilig oder mühsam, dass es nur schlafend oder träumend, wenn überhaupt, von uns wahrgenommen wird. Es wird nicht einmal bemerkt während dem das Auge darauf gerichtet ist. In den meisten Fällen hängen wir so „schauend“ irgendwelchen Gedanken nach, die für uns „wichtiger“ sind. Sie bilden eine Art Schleier, der sich vor das Auge schiebt und uns das Aufnehmen der Sinneseindrücke verbaut.

Was hat dies für Folgen? Es hat die Folge, dass wir uns, aus diesem Kontext heraus betrachtet, schwer vorstellen können, freie Menschen zu sein. Diese „Bewusstseinsketten“ haben einen unmittelbaren Bezug zu all den Dingen und Ereignissen, die uns jahrzehntelang als Persönlichkeit „gebildet“ haben. Aus solchen Erfahrungen wurden uns, nicht ohne Schmerzen, Urteile, Vorurteile, Meinungen, Ansichten förmlich „eingetrichtert“. Heute ist es ja ein Leichtes, dies auch mit wissenschaftlichen Methoden zu beweisen. Die Neurologie hat in den letzten Jahren viele Dinge bestätigt, die noch vor einigen Jahrzehnten als Hirngespinste irgendwelcher abgefahrener Esoteriker gegolten haben.

Es wäre fatal, wenn wir diesen Automatismen vollkommen ausgeliefert wären. Dann könnten wir in der Tat nicht mehr von „menschlicher Freiheit“ sprechen. Das ganze Rechtssystem müsste in den nächsten Jahrzehnten völlig neu überdacht werden, denn die Frage, wer die Verantwortung für unsere Taten übernehmen soll, wäre sehr komplex! Etwa so komplex, wie wenn wir die Rechtslage eines Wolfes beurteilen müssten, der ein Schaf gerissen hat.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Kampf der Standpunkte

KriegDie Geschichte der Menschheit ist ein Spiegel unserer eigenen Geschichte. Sie wiederholt sich seit Urzeiten in immer gleicher Art und Weise Millionenfach in jedem Menschen. Erst wenn wir beginnen, sie zu ahnen, erwachen wir aus dem Tiefschlaf immerwährender Kriege und Schlachten, stetem Zwiespalt und Feindschaften.

Du kommst auf diese Welt und erfährst im Laufe der Jahre, die Du durchschreitest bis zu Deinem jetzigen Moment, tausende und abertausende von Situationen. Zeitpunkt und Ort Deiner Geburt prägen zudem Deine Eindrücke und Wahrnehmungen. Umstände legen sich wie ein Schatten an Deine Seite, Bedingungen, die Du zunächst weder beeinflussen, noch verändern kannst. Das ganze daraus entstehende Gebilde nennen wir unsere Persönlichkeit. Du bildest aus all diesen Facetten und Bildnissen Deine Vorstellungen und Gedanken. Das daraus entstehende emotionale Gefüge lässt in Dir den Antrieb von Sympathie und Antipathie aufleben. Du beginnst, die Dinge der Welt zu gewichten und zu beurteilen. Du hasst dieses und liebst jenes. Sowohl Freude und Begeisterung wie Ablehnung und Widerwillen, prägen fortan Deinen Charakter. Du beziehst daraus Deine Belohnungen an denen Du Dich klammerst genauso wie Deine Niederlagen, an denen Du wächst und reifst.

So werden in Dein Seelenleben Werte implantiert. Sie befestigen sich zunehmend. Lob und Tadel haben dabei zweierlei Wirkung. Sie beflügeln Dich im einen Fall, geben Dir Bestätigung für Dein Tun und Handeln und öffnen Dir die Türen zu Gleichgesinnten. Tadel kann je nach dem in beide Richtungen wirken. Entweder es wird im Sinne eines Angriffs alles verteidigt was das Zeug hält, und dadurch zusätzlich gefestigt oder es treten Zweifel auf. Letzteres vor allem dann, wenn man im eigenen Standpunkt noch schwankt.

Aus der Dynamik dieser Schwankungen, diesem Hin- und Her der Gefühle und Emotionen, welche vor allem im jugendlichen Alter stattfinden, gewinnen wir Festigkeit und Stabilität in der eigenen Meinung. Ein Gefühl von innerer Sicherheit entsteht nach und nach. Wir suchen Gemeinschaften auf, politische, künstlerische, soziale oder religiöse, die uns nahestehen, die eine Verwandtschaft mit dem selbst Erfahrenen und Erlebten haben. Eine zunehmende Vertiefung des Erlernten tritt ein. Unsere Standpunkte werden geschliffen wie trübe Kristalle. Individualitäten mit „geschliffenen Kristallen“ stehen sich gegenüber. Je differenzierter der persönliche Schliff ist, umso schwieriger wird die Zustimmung dem Fremden, dem Andersartigen gegenüber. Standpunkte werden gegen andere Standpunkte verteidigt. Wahrnehmungen werden eingeschränkt, ausgerichtet nach dem vorgegebenen Muster dessen, was man sich über Jahrzehnte eingeschliffen hat. Nur so können überhaupt Kriege entstehen. Das ganze Deutschtum ist eine Blutschlacht zwischen solchen „Kristallen“ der Persönlichkeit, ob sie nun Wallenstein, Friedrich der Große oder Maria Theresia hießen. Kämpfe zwischen den Protestanten und den Katholiken bildeten über Jahrhunderte hinweg die Spuren von Blut und Macht und formten ein Volk. Immer waren es Standpunkte „nach bestem Glauben und Gewissen“, und dies auf beiden Seiten.

Solche Standpunkte haben einen Mangel. Sie verhindern Kommunikation. Als Wallenstein im dreißigjährigen Krieg, nach über 10 Jahren erst, selbst verletzt durch die Schlachtfelder lief und die blutverschmierten, entstellten oder verstümmelten Leichen sah, entdeckte er erst, wie unsinnig dieses Blutvergießen doch sei! Er zog die Konsequenzen und wollte mit den Protestanten verhandeln. Dem Kaiser gefiel das gar nicht und er ließ ihn lynchen.
Andere schnallen sich eine Bombe an den Bauch und jagen sich und andere unschuldige Opfer, für die eigenen Standpunkte in die Luft!

Aber auch Weltanschauungen sind voll von diesen Standpunkten. Die Bombe kann auch ein schneidendes Schwert der (persönlichen) Gerechtigkeit sein, mit dem man(n) das Böse bekämpft. Und immer wieder die Frage: Was ist das Böse? Die eine Antwort lautet: Jede Art von Gewalt am anderen Menschen und an Lebewesen sind böse. Die andere Antwort geht tiefer. Sie beschäftigt sich nicht nur mit einer Tat und verurteilt diese, sondern mit dem Motiv! Und dabei ist Gewalt viel weiter zu fassen, als nur Mord und Totschlag. Gewiss, dort zeigt sie sich am unmittelbarsten und am fatalsten. Was aber, wenn Gedanken selbst Gewalt bringen können? Wenn Gedanken zu Waffen werden? Mit dieser Art von Gewalt beschäftigt man sich viel zu wenig.

Es gibt Kulturen, die den Totschlag gegen das „Böse“ mit einer göttlichen Mission rechtfertigen. Der Beurteiler wird also sehr schnell zum Verurteiler, je nach dem, welchen Standpunkt er/sie vertritt. In diesem Dilemma befinden wir uns auch heute wieder ständig, wenn wir über Recht und Unrecht urteilen sollen. Standpunkte haben oft Ansprüche auf die alleinige Wahrheit. Es sind die Schwerter, die unsere Persönlichkeit geschmiedet haben. Es gibt aber auch ganze Volksschwerter, religiös motivierte Schwerter, politisch motivierte Schwerter, Macht motivierte Schwerter, kunstmotivierte Schwerter. In jedem Bereich des Lebens bilden wir unsere persönlichen Standpunkte, manchmal härter, manchmal schwächer, je nachdem, wie fest wir uns damit verbunden haben. Die Verbundenheit zu diesem oder jenem, bildet sich ebenso aus unserem Umfeld, aus dem wir herkommen. Wir nehmen alles aus der Perspektive der eigenen Brille wahr. Das ganze Gebilde daraus ist unser persönliches Lebensmodell. Es ist ein Flickenteppich aus ganz verschiedenen Färbungen und Facetten, zusammengebaut, konstruiert aus einer Fülle von Erlebnissen und Erfahrungen.

Wenn man sich der Stärke dieser Kraft des physischen UND geistigen „Erbstromes“ einmal wirklich bewusst geworden ist, wird man ganz klein. Denn so vieles verkappen und verdecken wir nur zu gerne mit einem „Schein des Guten“. Wir wollen darüberstehen und eignen uns moralische Vorstellungen an, mit denen wir die Welt nach unseren Maßstäben beurteilen. Dies ohne zu bemerken, dass wir keinen Deut aus der Vernetzung der eigenen Persönlichkeit herausgetreten sind. Das Hängenbleiben auf der Ebene der Vorstellungen generell, ob sie nun edel oder weniger edel sind, verhindert den Blick ins eigene Zentrum. Die Kraft, aus der das eigentliche Leben fließt, wird dadurch abgedeckt, der „geistige Quantensprung“ erfolgreich verhindert.

Jens Heisterkamp fragt in seinem Vorwort zu einer Ausgabe von info3 zurecht: “ …wie schwer es für die jeweilige Zeitgenossenschaft ist, Unrecht beim Namen zu nennen und in der Unübersichtlichkeit widerstreitender Urteile die Übersicht zu behalten…“ Man kann sich fragen, wer diese Urteile fällen soll? Der moralisch integre Mensch? Der Gutmensch? Alle, die noch „den gesunden Menschenverstand“ besitzen? Sehen wir in unserer Zeit die wirklichen Gefahren oder sind sie etwa genauso versteckt, wie vor den beiden Weltkriegen und zu anderen Zeiten?

Keiner will doch, so gegensätzlich die Meinungen auch sind, darauf verzichten, an diesen „gesunden Menschenverstand“ zu appellieren. Alle Kriegsparteien bezichtigen die anderen des Unvermögens und umgekehrt. Am Schluss kommen wir immer wieder an die „letzte Instanz“, an die objektive, allgemeingültige Wahrheit, die jeder zu haben glaubt. Gerne verweisen wir dabei an einen unbestimmten „Gott“, an ein etwas, weitab von der menschlichen Seele; ein irgendwo in der Ferne, hinter den Wolken sitzendes Wesen oder was auch immer damit für Vorstellungen verknüpft sind; ein Wesen, was sich genau genommen keiner so richtig vorstellen kann und worauf sich doch so viele Völker berufen: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen“ schreien sie und stürzen sich auf all jene, die „Unrecht“ haben. Und die andere Kriegspartei tut dasselbe. Und dazwischen alle möglichen Tönungen und Schattierungen von anderen vermeintlichen Göttern, die alle Recht haben wollen. „Aber man sieht doch, wie die Lage aussieht!“ Schreien die einen dies, so schreien die Gegner dasselbe. Sie beurteilen die Lage anders, weil sie eben niemals nur von einem Standpunkt aus zu beurteilen ist und weil, das kommt heute dazu, schlicht falsch informiert wird, nämlich so, wie es für die jeweilige Partei, Macht, Staat oder Person von Nutzen ist… Informationen aber sind das A und O, sie bilden die Nahrung unreflektierter Vorstellungen. Anders ist nichts zu beurteilen. Immer ist man auf deren Vertraulichkeit angewiesen. Von wegen „objektiv“… Wer schreibt Geschichte? Und mit welchen Interessen…?

Wie auch immer man die Sache dreht und wendet: Man landet letztlich immer wieder bei sich selbst: „Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein…“. Das gespaltene Wesen, was wir sind und wovon schon Immanuel Kant sich scheute, indem er jene Macht in ein unbestimmtes Jenseits verschob, muss erkannt und gesichtet werden. Erst wenn wir dieses Andere IN UNS erkennen UND ERLEBEN, wird es zu einem unerschütterlichen Fels, auf dem wir nun – es wird langsam Zeit – die eigene innere, überkonfessionelle „Kirche“ erbauen können. Dasselbe „Ding“, was die Anderen bisher immer nur im Außen erkannte (und verurteilte), der große, unerkannte Feind, erkennt nun sich selbst!

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Kunst und Freiheit

kinderzeichnungFast jeder Künstler pocht auf seine Freiheitsrechte. Fragt man ihn danach, wie er seine Motive findet, woher er seine Ideen habe, zuckt er mit den Achseln und macht vielleicht seine „Intuition“ geltend. Machen Sie doch, bevor Sie weiter lesen, einen kleinen Selbstversuch!

Nehmen Sie ein Blatt Papier und versuchen sie  einen einzigen wirklich freien Strich zu zeichnen!

Haben Sie das getan? Gut, dann betrachten Sie diesen einen Strich einmal ganz genau! Haben Sie links begonnen? Warum? Vermutlich fangen fast alle solchen Versuche von links nach rechts an. Das ist konditioniert! Wir Westler schreiben ja schließlich auch von links nach rechts.

Vielleicht beginnt ein Japaner oder ein Chinese, je nach Konditionierung oben oder rechts usw. Konditionen sind natürlich nie frei. Sie sind in unserer Kindheit schon früh gebildet oder uns je nach dem sogar eingetrichtert worden. Es mag sein, dass Sie, trotz dieser Prägung, rechts begonnen haben. Das ist schon gut und eher selten. Vielleicht sind Sie Linkshänder? Haben Sie dies frei gewählt? Aber wie sieht denn dieser Strich sonst noch aus? Schauen sie ihn einmal kritisch und möglichst unbefangen an. Vergessen Sie alles, was Sie als „schön“  bezeichnen. Vergessen Sie Ihr Gefühl für Formen, Ihre Vorlieben für Ordnung, Ästhetik, für Rundungen, Kanten, Ecken usw. All diese Präferenzen können Sie schon mal als unfrei abhaken.

Es sind genauso konditionierte und angelernte Vorstellungen, die sich im Laufe des Lebens gebildet haben und die Ihre jetzige Persönlichkeit ausmachen, wie die meisten routinemäßigen Handlungen, die Sie im Alltag verrichten! Wer wirklich ganz ehrlich mit sich selbst sein will, muss erkennen, wie schwierig es ist, nur schon einen einzigen wirklich freien Strich aufs Papier zu kriegen. Wenn Sie jetzt Farben dazu nehmen – oder meinetwegen Ton, oder andere künstlerische Mittel einsetzen, dann werden Sie, mit der nötigen Selbstdistanz erleben, wie wenig Ihr Handeln mit Freiheit zu tun hat!

Die Frage ist berechtigt, ob es Freiheit denn überhaupt gibt? Rudolf Steiner hat in seiner „Philosophie der Freiheit“ versucht, dieser Frage auf den Zahn fühlen. Das vordringen auf den tiefsten Kern der menschlichen Wesenheit spielt dabei eine wichtige, besser gesagt die wichtigste Rolle. Wenn wir unsere Verhaltensweisen, unsere Handlungen und Motive betrachten, müssen wir, uns selbst erkennend, feststellen, dass sie diesen Kern wenig bis gar nicht betreffen oder gar berühren.

Für mich als Kunsttherapeut hat diese Frage der Freiheit des wesentlichen Kerns unseres Menschseins eine hohe, wenn nicht höchste Priorität. Berührt werden kann man nur genau dort. Und um solche Berührung geht es. Alle Intention einer guten Therapie richtet sich nur auf dieses eine. Hier geht es weder Ideen, noch um Methoden oder um persönliche Vorzüge, weder jene des Therapeuten, noch jene des Patienten, sondern einzig und allein um menschliche Begegnung. Beziehung schaffen, Bezug schaffen, ist der Schlüssel.

Durch die Verhaftung mit unseren inneren Lieblingen, machen wir uns verletzbar für jede Kritik, jeden Einwand oder noch so gut gemeinte Intervention. Da wir diese Lieblinge nicht erkennen im Zustand der Identifikation mit ihnen, reagieren wir üblicherweise mit Abwehr oder Unmut, wenn sie von außen angezweifelt werden. Dasselbe ist Ihnen vielleicht auch gerade eben passiert bei meinem Einwand, dass Ihr Strich konditioniert sein könnte…

Manchmal sind Interventionen äußerst delikat und schwierig. Und dennoch sind wir alle darauf angewiesen, dass wir Rückmeldungen bekommen. Das ist in der Therapie nicht anders als im Leben selbst. Und sich jeder Kunstschaffender ist damit konfrontiert. Im Zentrum steht latent immer die Frage nach Freiheit. Welche Handlungen wir auch tun, sie betreffen immer unsere eigene persönliche Freiheit oder jene anderer Menschen.
Dabei wäre die Kunst meines Erachtens eines der vorzüglichsten Mittel, um unsere Verhaftungen sichtbar zu machen. Möglicherweise sitzen Sie jetzt immer noch vor Ihrer Strich-Zeichnung? Nutzen Sie die Chance etwas zu entdecken in Ihnen, was bisher möglicherweise verborgen blieb! Probieren Sie es wieder und wieder! Machen Sie sich auf den Weg… zu sich selbst!

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Woher kommen eigentlich unsere Urteile?

UrteilZiel jeder persönlichen Entwicklung ist wohl fast für jeden Menschen die Erlangung einer größtmöglichen Freiheit.
Dass diese Freiheit zunächst vorwiegend aus egoistischen Bedürfnissen jedes einzelnen besteht, mag nachdenklich stimmen, kommt aber für mündige Mitdenker nicht wirklich überraschend daher. Tiefer gemeinte Freiheit bedingt ein Wissen über unsere eigenen Intentionen und Handlungen. Denn nur aus der Bewusstwerdung der eigenen Motive kann ich erst anfangen davon zu sprechen, frei zu werden.

Diese Art Freiheit umfasst nicht nur die Umwelt, die so zu sein hat, wie ich meine, dass sie sein müsste, um mein eigenes Leben zu optimieren. Sie umfasst mich selber mit. Sie umfasst mich und meine Motive im Bezug auf die Welt.

Das Bewusstwerden dieser Ebene bedingt eine tiefere Erkenntnis. Der Standpunkt wird sozusagen aus der eigenen Persönlichkeit ausgelagert. Das ist nicht der Normalzustand unseres Bewusstseins. Das normale Vermögen von Wachheit reicht nicht über die Persönlichkeit hinaus. Deshalb fällen wir unsere Urteile in der Regel nur nach den Kriterien dieser Ebene. Sie sind gefärbt durch unsere Erlebnisse und Erfahrungen. Diese sammeln sich im Laufe der Jahre um einen unsichtbaren Kern. Es ist dies sozusagen die reine Essenz unserer Individualität. Sie wird bei jedem Neugeborenen bereits wahrgenommen. Schaut das kleine Kind durch seine Augen in die Welt, dann erblickt es diese noch rein.

Wenn wir durch die Straßen gehen und die Dinge durch unsere Augen sehen, dann erscheinen sie uns nicht mehr so, wie sie wirklich sind, sondern getrübt. Es schieben sich sozusagen Filter dazwischen. So werden unsere Urteile gefärbt. Das kleine Kind, welches noch keine solchen Filter hat, sieht die Dinge wohl reiner, kann sie aber intellektuell nicht verarbeiten. Das lernt es erst später, wenn sich der Verstand einschaltet. Und dass sich dieser Verstand einschaltet, macht auch durchaus Sinn. Dadurch erfahren wir die Welt bewusster und können sie mitgestalten. Wir sammeln Erfahrungen und gewinnen Sicherheit. Wir verwerten die Dinge und bringen unsere Talente ein. Daran ist nichts zu meckern.

Es ist der Sinn unserer Existenz, Werte zu schaffen, die unserem persönlichen Vermögen entsprechen. Warum also sollten wir daran etwas ändern? Warum sollten Urteile etwas schlechtes sein? Sie werden erst dann problematisch, wenn sie uns entführen und uns von unserem wahren Kern entfremden. Und das tun sie dann, wenn sie einfrieren. Wenn die geistige Beweglichkeit und Offenheit beeinträchtigt wird. Und dies geschieht immer dann, wenn wir die dahinter liegenden Motive vergessen: Den Urgrund jener Erkenntnis, die zum Urteil führten. Die Verbindung mit diesem Urgrund muss erhalten bleiben. Tut sie es nicht, verselbständigt sich das Urteil sozusagen. Unser Bewusstsein verschmilzt damit, verhaftet sich damit. In diesem Akt liegt die Entfremdung und die Abspaltung von unserem Kern. Von den Moment an ist es aus mit der Freiheit, weil wir die Intentionen der Handlung nicht mehr im Griff haben und daher nicht mehr begreifen.

Urteile müssen ja nicht zwingend negativ sein. Sie können auch sehr positiv sein. Wir können soziale und loyale, menschenfreundliche Urteile haben. Wir können aber ebenso gut von irgend etwas besessen sein. Von einem religiösen Glauben zum Beispiel oder einem Guru. Oder von irgendwelchen bösen Menschen, die wir umbringen müssen, damit die Welt besser wird usw. Der Inhalt des Urteils ist also nicht das Problem der Freiheit, sondern die Selbstvergessenheit im Sinne einer Abspaltung vom individuellen Kern. Der Verlust eines tieferen Bewusstseins, welches durch Dogmen und Konventionen zugepflastert ist, verfestigt uns in einer abgespaltenen Persönlichkeit, die wiederum aus vielen Teilpersönlichkeiten besteht. Darin verwirrt sich unser Geist, was letztlich die Folge jeder psychischen Störung ist.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft?

Persönliche Verletzungen

verletztseinDie meisten Menschen kennen das Gefühl, verletzt zu sein. Es sind verschiedene Ursachen, die zu solchen Emotionen führen können. Eine der wichtigsten ist Ablehnung. Schon im Kindesalter wird sie in unzähligen Situationen durch entsprechende Verhaltensweisen des Umfeldes geschürt. Ich denke zum Beispiel an ein Kind, welches mit Begeisterung von seinen Erlebnissen erzählt und dann getadelt oder sogar geschlagen wird, weil es mit schmutzigen Kleidern nach Hause kommt. Dies erzeugt nach und nach Wunden in der Seele, die sich unterschiedlich anfühlen. Jeder von uns entwickelt individuelle Strategien diesen zu begegnen. Manche reagieren mit Wut, andere mit Resignation, wieder andere durch Anpassung usw. Daraus schmieden wir uns unbewusst schon frühzeitig unseren Lebensplan.

Wut z.B. generiert Ehrgeiz im Sinne von „warte nur, ich zeig es euch! Ich beweise euch, wie stark ich bin!“ Viele sportliche oder berufliche Höchstleistungen werden später aus diesem Ehrgeiz genährt. Auf der anderen Seite kann der Rückzug in die Defensive ein Vorläufer für depressive Verstimmungen sein. Aus dem Erlebnis der Ablehnung könnte der Schluss folgen, nichts wert zu sein. Solche Extreme sind natürlich nicht die einzigen Verhaltensmuster, die sich bilden können. Auch Anpassung kann ein solches Muster sein. Sie entsteht aus dem Gefühl „ich will gut sein, damit ich gelobt werde!“. Diese Seelenverfassung kann wiederum positiv oder negativ ausgerichtet werden. Die positiv ausgerichtete Variante wird befriedigt durch die Anerkennung von aussen, nämlich dann wenn wir durch unser Liebsein belohnt werden mit Zuneigung. Solange wird in uns ein Wohlgefühl erzeugt. So gestrickt fühlt man sich gut und sieht keine Veranlassung, etwas an seinem Leben zu ändern. Sobald die äußeren Stützen (des Lobes, der Anerkennung, der Wertschätzung) fallen, ändert sich die Situation schlagartig.
Die negative Variante erfolgt dann, wenn wir resignieren, wenn selbst das Liebsein nicht mehr zum gewünschten Erfolg führt. Hier geraten wir schnell in einen Teufelskreis, weil unsere Bemühung lieb zu sein abnimmt und dadurch weniger Anerkennung erzeugt. Dies wiederum bestärkt uns im Glauben, untauglich für die Welt zu sein, was dazu führt, dass wir auch weniger dafür tun.

In allen Fällen jedoch steht ein Grundgefühl  im Hintergrund (die Ablehnung ist eines davon). Es bildet sich meistens schon im Kindesalter heran. Die „Strategien“, die wir daraus entwickeln, können sehr unterschiedlich ausfallen. Sie hängen im wesentlichen vom Charakter ab, mit dem wir schon von Anfang an die Reise in die Welt antreten. Diese Vorprägung hat wenig zu tun mit der Ursache für die oben genannten Verhaltensweisen. Dies zeigt sich schon bei Geschwistern sehr deutlich, die sich in ähnlichen Situationen sehr verschieden entwickeln können. Der Charakter ist sozusagen ein Wesensgefüge, mit dem wir die Bühne des Lebens betreten. Er bewirkt und beeinflusst unsere Reaktion auf entsprechende Situationen.

Man kann sich fragen, was denn eine „gesunde Entwicklung“ bedeutet und ob es sie in Reinform überhaupt gibt? Da wohl jeder von uns solche Verletzungen kennt, muss ich davon ausgehen, dass es die perfekte Voraussetzung nicht gibt, nicht geben kann. Es gibt stärkere und mildere Formen davon. Daraus lässt sich ableiten, dass es durchaus sinnvoll sein kann, sich mit den Tatsachen auseinander zu setzen. Auch im Herangehen an diese Probleme gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Die Selbstbeobachtung steht auch hier wieder an zentraler Stelle. Denn sie ist das entscheidende Werkzeug der Selbsterkenntnis. Mangelt es daran, verstärken wir den Druck und häufen Last an.

Die Beiträge auf diesem Blog über die Liebe ließen viele Fragen und Reaktionen aufkommen. Insbesondere der Zusammenhang zwischen dem ich und dem es bereiten viel Mühe. Das ist kaum verwunderlich, denn genau in deren Schnittstelle bildet sich die Mauer zu einem Erlebnis, welches sich auf einer anderen Ebene abspielt. Einer der größten Gegenspieler dieses es versteckt sich unter dem Mantel all dieser persönlichen Verletzungen. Es sind die rauen Schalen und die dicken Häute die uns davor schützen – aber auch behindern. Wir verschanzen uns dahinter. Sie verhindern, dass wir das dahinter liegende (den Schmerz) vergessen oder verdrängen. Er verbirgt sich hinter unserem Rücken. Wir wissen wenig von ihm, orientieren uns meist nach vorne in die glitzernde, glamouröse Welt. Der Blick zurück ist uns fremd. Es wäre ein Blick in unser eigenes Innere.

Gelegentlich „trifft“ uns etwas, bedrängt uns, fährt uns in den Rücken. Wir wachen kurz auf, spüren einen unangenehmen Druck, eine „Hexe“, die uns ins Kreuz schiesst. Dies kann seelisch und physisch geschehen. Es lässt uns für kurze Momente aufmerksam werden, inne zu halten. Mulmige Gefühle steigen auf. Da hilft Ablenkung vorzüglich. „Vorne“ (und auf den Bildschirmen) passiert ja so viel, womit wir uns beschäftigen können. So sammelt sich hinter unserem Rücken im Lauf des Lebens eine schwere Last an. Wir tragen diesen Rucksack, der sich durch unser ganzes Leben mit immer mehr „Material“ anfüllt, bis wir davon gebeugt sind. Die Last wird von Jahr zu Jahr schwerer. Unser Ignorieren hilft deren Wachstum.

Jahre vergehen. Was sich angesammelt hat, lässt sich irgendwann nicht mehr verbergen. Wir müssen lernen loszulassen. All die Aufruhr gegen jeden und jede, gegen alles, was von aussen auf uns einwirkt und unser Wohlbefinden stört, beginnt zu zerbröckeln. Nun türmen sich die Lasten hinter unserem Rücken auf. Eine zeitlang verfügen wir noch über schier unendliche Kräfte, um uns gegen sie zur Wehr zu setzen. Unzählige Situationen des Ärgers, der Verbitterung, der Kritik, des Lasters (kommt von dieser Last im Rücken), der Vorurteile und des Rechthabens beflügeln unser Ego, bis es irgendwann zerbricht. Etwas muss zerbrechen, gebrochen werden, zugrunde gehen, wenn wir die Last loswerden wollen. Wenn wir Loslassen scheinen wir für einen Moment zu sterben. Nichts hält uns mehr. Das ist der Moment der Auferstehung, eines neuen lebendigen Gefühls von Wachheit und Zufriedenheit.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

RSS
Follow by Email
LinkedIn
Share
%d Bloggern gefällt das: