Kampf der Standpunkte

KriegDie Geschichte der Menschheit ist ein Spiegel unserer eigenen Geschichte. Sie wiederholt sich seit Urzeiten in immer gleicher Art und Weise Millionenfach in jedem Menschen. Erst wenn wir beginnen, sie zu ahnen, erwachen wir aus dem Tiefschlaf immerwährender Kriege und Schlachten, stetem Zwiespalt und Feindschaften.

Du kommst auf diese Welt und erfährst im Laufe der Jahre, die Du durchschreitest bis zu Deinem jetzigen Moment, tausende und abertausende von Situationen. Zeitpunkt und Ort Deiner Geburt prägen zudem Deine Eindrücke und Wahrnehmungen. Umstände legen sich wie ein Schatten an Deine Seite, Bedingungen, die Du zunächst weder beeinflussen, noch verändern kannst. Das ganze daraus entstehende Gebilde nennen wir unsere Persönlichkeit. Du bildest aus all diesen Facetten und Bildnissen Deine Vorstellungen und Gedanken. Das daraus entstehende emotionale Gefüge lässt in Dir den Antrieb von Sympathie und Antipathie aufleben. Du beginnst, die Dinge der Welt zu gewichten und zu beurteilen. Du hasst dieses und liebst jenes. Sowohl Freude und Begeisterung wie Ablehnung und Widerwillen, prägen fortan Deinen Charakter. Du beziehst daraus Deine Belohnungen an denen Du Dich klammerst genauso wie Deine Niederlagen, an denen Du wächst und reifst.

So werden in Dein Seelenleben Werte implantiert. Sie befestigen sich zunehmend. Lob und Tadel haben dabei zweierlei Wirkung. Sie beflügeln Dich im einen Fall, geben Dir Bestätigung für Dein Tun und Handeln und öffnen Dir die Türen zu Gleichgesinnten. Tadel kann je nach dem in beide Richtungen wirken. Entweder es wird im Sinne eines Angriffs alles verteidigt was das Zeug hält, und dadurch zusätzlich gefestigt oder es treten Zweifel auf. Letzteres vor allem dann, wenn man im eigenen Standpunkt noch schwankt.

Aus der Dynamik dieser Schwankungen, diesem Hin- und Her der Gefühle und Emotionen, welche vor allem im jugendlichen Alter stattfinden, gewinnen wir Festigkeit und Stabilität in der eigenen Meinung. Ein Gefühl von innerer Sicherheit entsteht nach und nach. Wir suchen Gemeinschaften auf, politische, künstlerische, soziale oder religiöse, die uns nahestehen, die eine Verwandtschaft mit dem selbst Erfahrenen und Erlebten haben. Eine zunehmende Vertiefung des Erlernten tritt ein. Unsere Standpunkte werden geschliffen wie trübe Kristalle. Individualitäten mit „geschliffenen Kristallen“ stehen sich gegenüber. Je differenzierter der persönliche Schliff ist, umso schwieriger wird die Zustimmung dem Fremden, dem Andersartigen gegenüber. Standpunkte werden gegen andere Standpunkte verteidigt. Wahrnehmungen werden eingeschränkt, ausgerichtet nach dem vorgegebenen Muster dessen, was man sich über Jahrzehnte eingeschliffen hat. Nur so können überhaupt Kriege entstehen. Das ganze Deutschtum ist eine Blutschlacht zwischen solchen „Kristallen“ der Persönlichkeit, ob sie nun Wallenstein, Friedrich der Große oder Maria Theresia hießen. Kämpfe zwischen den Protestanten und den Katholiken bildeten über Jahrhunderte hinweg die Spuren von Blut und Macht und formten ein Volk. Immer waren es Standpunkte „nach bestem Glauben und Gewissen“, und dies auf beiden Seiten.

Solche Standpunkte haben einen Mangel. Sie verhindern Kommunikation. Als Wallenstein im dreißigjährigen Krieg, nach über 10 Jahren erst, selbst verletzt durch die Schlachtfelder lief und die blutverschmierten, entstellten oder verstümmelten Leichen sah, entdeckte er erst, wie unsinnig dieses Blutvergießen doch sei! Er zog die Konsequenzen und wollte mit den Protestanten verhandeln. Dem Kaiser gefiel das gar nicht und er ließ ihn lynchen.
Andere schnallen sich eine Bombe an den Bauch und jagen sich und andere unschuldige Opfer, für die eigenen Standpunkte in die Luft!

Aber auch Weltanschauungen sind voll von diesen Standpunkten. Die Bombe kann auch ein schneidendes Schwert der (persönlichen) Gerechtigkeit sein, mit dem man(n) das Böse bekämpft. Und immer wieder die Frage: Was ist das Böse? Die eine Antwort lautet: Jede Art von Gewalt am anderen Menschen und an Lebewesen sind böse. Die andere Antwort geht tiefer. Sie beschäftigt sich nicht nur mit einer Tat und verurteilt diese, sondern mit dem Motiv! Und dabei ist Gewalt viel weiter zu fassen, als nur Mord und Totschlag. Gewiss, dort zeigt sie sich am unmittelbarsten und am fatalsten. Was aber, wenn Gedanken selbst Gewalt bringen können? Wenn Gedanken zu Waffen werden? Mit dieser Art von Gewalt beschäftigt man sich viel zu wenig.

Es gibt Kulturen, die den Totschlag gegen das „Böse“ mit einer göttlichen Mission rechtfertigen. Der Beurteiler wird also sehr schnell zum Verurteiler, je nach dem, welchen Standpunkt er/sie vertritt. In diesem Dilemma befinden wir uns auch heute wieder ständig, wenn wir über Recht und Unrecht urteilen sollen. Standpunkte haben oft Ansprüche auf die alleinige Wahrheit. Es sind die Schwerter, die unsere Persönlichkeit geschmiedet haben. Es gibt aber auch ganze Volksschwerter, religiös motivierte Schwerter, politisch motivierte Schwerter, Macht motivierte Schwerter, kunstmotivierte Schwerter. In jedem Bereich des Lebens bilden wir unsere persönlichen Standpunkte, manchmal härter, manchmal schwächer, je nachdem, wie fest wir uns damit verbunden haben. Die Verbundenheit zu diesem oder jenem, bildet sich ebenso aus unserem Umfeld, aus dem wir herkommen. Wir nehmen alles aus der Perspektive der eigenen Brille wahr. Das ganze Gebilde daraus ist unser persönliches Lebensmodell. Es ist ein Flickenteppich aus ganz verschiedenen Färbungen und Facetten, zusammengebaut, konstruiert aus einer Fülle von Erlebnissen und Erfahrungen.

Wenn man sich der Stärke dieser Kraft des physischen UND geistigen „Erbstromes“ einmal wirklich bewusst geworden ist, wird man ganz klein. Denn so vieles verkappen und verdecken wir nur zu gerne mit einem „Schein des Guten“. Wir wollen darüberstehen und eignen uns moralische Vorstellungen an, mit denen wir die Welt nach unseren Maßstäben beurteilen. Dies ohne zu bemerken, dass wir keinen Deut aus der Vernetzung der eigenen Persönlichkeit herausgetreten sind. Das Hängenbleiben auf der Ebene der Vorstellungen generell, ob sie nun edel oder weniger edel sind, verhindert den Blick ins eigene Zentrum. Die Kraft, aus der das eigentliche Leben fließt, wird dadurch abgedeckt, der „geistige Quantensprung“ erfolgreich verhindert.

Jens Heisterkamp fragt in seinem Vorwort zu einer Ausgabe von info3 zurecht: “ …wie schwer es für die jeweilige Zeitgenossenschaft ist, Unrecht beim Namen zu nennen und in der Unübersichtlichkeit widerstreitender Urteile die Übersicht zu behalten…“ Man kann sich fragen, wer diese Urteile fällen soll? Der moralisch integre Mensch? Der Gutmensch? Alle, die noch „den gesunden Menschenverstand“ besitzen? Sehen wir in unserer Zeit die wirklichen Gefahren oder sind sie etwa genauso versteckt, wie vor den beiden Weltkriegen und zu anderen Zeiten?

Keiner will doch, so gegensätzlich die Meinungen auch sind, darauf verzichten, an diesen „gesunden Menschenverstand“ zu appellieren. Alle Kriegsparteien bezichtigen die anderen des Unvermögens und umgekehrt. Am Schluss kommen wir immer wieder an die „letzte Instanz“, an die objektive, allgemeingültige Wahrheit, die jeder zu haben glaubt. Gerne verweisen wir dabei an einen unbestimmten „Gott“, an ein etwas, weitab von der menschlichen Seele; ein irgendwo in der Ferne, hinter den Wolken sitzendes Wesen oder was auch immer damit für Vorstellungen verknüpft sind; ein Wesen, was sich genau genommen keiner so richtig vorstellen kann und worauf sich doch so viele Völker berufen: „Im Namen Gottes, des Allmächtigen“ schreien sie und stürzen sich auf all jene, die „Unrecht“ haben. Und die andere Kriegspartei tut dasselbe. Und dazwischen alle möglichen Tönungen und Schattierungen von anderen vermeintlichen Göttern, die alle Recht haben wollen. „Aber man sieht doch, wie die Lage aussieht!“ Schreien die einen dies, so schreien die Gegner dasselbe. Sie beurteilen die Lage anders, weil sie eben niemals nur von einem Standpunkt aus zu beurteilen ist und weil, das kommt heute dazu, schlicht falsch informiert wird, nämlich so, wie es für die jeweilige Partei, Macht, Staat oder Person von Nutzen ist… Informationen aber sind das A und O, sie bilden die Nahrung unreflektierter Vorstellungen. Anders ist nichts zu beurteilen. Immer ist man auf deren Vertraulichkeit angewiesen. Von wegen „objektiv“… Wer schreibt Geschichte? Und mit welchen Interessen…?

Wie auch immer man die Sache dreht und wendet: Man landet letztlich immer wieder bei sich selbst: „Wer frei ist von Schuld, der werfe den ersten Stein…“. Das gespaltene Wesen, was wir sind und wovon schon Immanuel Kant sich scheute, indem er jene Macht in ein unbestimmtes Jenseits verschob, muss erkannt und gesichtet werden. Erst wenn wir dieses Andere IN UNS erkennen UND ERLEBEN, wird es zu einem unerschütterlichen Fels, auf dem wir nun – es wird langsam Zeit – die eigene innere, überkonfessionelle „Kirche“ erbauen können. Dasselbe „Ding“, was die Anderen bisher immer nur im Außen erkannte (und verurteilte), der große, unerkannte Feind, erkennt nun sich selbst!

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

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