Persönliche Verletzungen

verletztseinDie meisten Menschen kennen das Gefühl, verletzt zu sein. Es sind verschiedene Ursachen, die zu solchen Emotionen führen können. Eine der wichtigsten ist Ablehnung. Schon im Kindesalter wird sie in unzähligen Situationen durch entsprechende Verhaltensweisen des Umfeldes geschürt. Ich denke zum Beispiel an ein Kind, welches mit Begeisterung von seinen Erlebnissen erzählt und dann getadelt oder sogar geschlagen wird, weil es mit schmutzigen Kleidern nach Hause kommt. Dies erzeugt nach und nach Wunden in der Seele, die sich unterschiedlich anfühlen. Jeder von uns entwickelt individuelle Strategien diesen zu begegnen. Manche reagieren mit Wut, andere mit Resignation, wieder andere durch Anpassung usw. Daraus schmieden wir uns unbewusst schon frühzeitig unseren Lebensplan.

Wut z.B. generiert Ehrgeiz im Sinne von „warte nur, ich zeig es euch! Ich beweise euch, wie stark ich bin!“ Viele sportliche oder berufliche Höchstleistungen werden später aus diesem Ehrgeiz genährt. Auf der anderen Seite kann der Rückzug in die Defensive ein Vorläufer für depressive Verstimmungen sein. Aus dem Erlebnis der Ablehnung könnte der Schluss folgen, nichts wert zu sein. Solche Extreme sind natürlich nicht die einzigen Verhaltensmuster, die sich bilden können. Auch Anpassung kann ein solches Muster sein. Sie entsteht aus dem Gefühl „ich will gut sein, damit ich gelobt werde!“. Diese Seelenverfassung kann wiederum positiv oder negativ ausgerichtet werden. Die positiv ausgerichtete Variante wird befriedigt durch die Anerkennung von aussen, nämlich dann wenn wir durch unser Liebsein belohnt werden mit Zuneigung. Solange wird in uns ein Wohlgefühl erzeugt. So gestrickt fühlt man sich gut und sieht keine Veranlassung, etwas an seinem Leben zu ändern. Sobald die äußeren Stützen (des Lobes, der Anerkennung, der Wertschätzung) fallen, ändert sich die Situation schlagartig.
Die negative Variante erfolgt dann, wenn wir resignieren, wenn selbst das Liebsein nicht mehr zum gewünschten Erfolg führt. Hier geraten wir schnell in einen Teufelskreis, weil unsere Bemühung lieb zu sein abnimmt und dadurch weniger Anerkennung erzeugt. Dies wiederum bestärkt uns im Glauben, untauglich für die Welt zu sein, was dazu führt, dass wir auch weniger dafür tun.

In allen Fällen jedoch steht ein Grundgefühl  im Hintergrund (die Ablehnung ist eines davon). Es bildet sich meistens schon im Kindesalter heran. Die „Strategien“, die wir daraus entwickeln, können sehr unterschiedlich ausfallen. Sie hängen im wesentlichen vom Charakter ab, mit dem wir schon von Anfang an die Reise in die Welt antreten. Diese Vorprägung hat wenig zu tun mit der Ursache für die oben genannten Verhaltensweisen. Dies zeigt sich schon bei Geschwistern sehr deutlich, die sich in ähnlichen Situationen sehr verschieden entwickeln können. Der Charakter ist sozusagen ein Wesensgefüge, mit dem wir die Bühne des Lebens betreten. Er bewirkt und beeinflusst unsere Reaktion auf entsprechende Situationen.

Man kann sich fragen, was denn eine „gesunde Entwicklung“ bedeutet und ob es sie in Reinform überhaupt gibt? Da wohl jeder von uns solche Verletzungen kennt, muss ich davon ausgehen, dass es die perfekte Voraussetzung nicht gibt, nicht geben kann. Es gibt stärkere und mildere Formen davon. Daraus lässt sich ableiten, dass es durchaus sinnvoll sein kann, sich mit den Tatsachen auseinander zu setzen. Auch im Herangehen an diese Probleme gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Die Selbstbeobachtung steht auch hier wieder an zentraler Stelle. Denn sie ist das entscheidende Werkzeug der Selbsterkenntnis. Mangelt es daran, verstärken wir den Druck und häufen Last an.

Die Beiträge auf diesem Blog über die Liebe ließen viele Fragen und Reaktionen aufkommen. Insbesondere der Zusammenhang zwischen dem ich und dem es bereiten viel Mühe. Das ist kaum verwunderlich, denn genau in deren Schnittstelle bildet sich die Mauer zu einem Erlebnis, welches sich auf einer anderen Ebene abspielt. Einer der größten Gegenspieler dieses es versteckt sich unter dem Mantel all dieser persönlichen Verletzungen. Es sind die rauen Schalen und die dicken Häute die uns davor schützen – aber auch behindern. Wir verschanzen uns dahinter. Sie verhindern, dass wir das dahinter liegende (den Schmerz) vergessen oder verdrängen. Er verbirgt sich hinter unserem Rücken. Wir wissen wenig von ihm, orientieren uns meist nach vorne in die glitzernde, glamouröse Welt. Der Blick zurück ist uns fremd. Es wäre ein Blick in unser eigenes Innere.

Gelegentlich „trifft“ uns etwas, bedrängt uns, fährt uns in den Rücken. Wir wachen kurz auf, spüren einen unangenehmen Druck, eine „Hexe“, die uns ins Kreuz schiesst. Dies kann seelisch und physisch geschehen. Es lässt uns für kurze Momente aufmerksam werden, inne zu halten. Mulmige Gefühle steigen auf. Da hilft Ablenkung vorzüglich. „Vorne“ (und auf den Bildschirmen) passiert ja so viel, womit wir uns beschäftigen können. So sammelt sich hinter unserem Rücken im Lauf des Lebens eine schwere Last an. Wir tragen diesen Rucksack, der sich durch unser ganzes Leben mit immer mehr „Material“ anfüllt, bis wir davon gebeugt sind. Die Last wird von Jahr zu Jahr schwerer. Unser Ignorieren hilft deren Wachstum.

Jahre vergehen. Was sich angesammelt hat, lässt sich irgendwann nicht mehr verbergen. Wir müssen lernen loszulassen. All die Aufruhr gegen jeden und jede, gegen alles, was von aussen auf uns einwirkt und unser Wohlbefinden stört, beginnt zu zerbröckeln. Nun türmen sich die Lasten hinter unserem Rücken auf. Eine zeitlang verfügen wir noch über schier unendliche Kräfte, um uns gegen sie zur Wehr zu setzen. Unzählige Situationen des Ärgers, der Verbitterung, der Kritik, des Lasters (kommt von dieser Last im Rücken), der Vorurteile und des Rechthabens beflügeln unser Ego, bis es irgendwann zerbricht. Etwas muss zerbrechen, gebrochen werden, zugrunde gehen, wenn wir die Last loswerden wollen. Wenn wir Loslassen scheinen wir für einen Moment zu sterben. Nichts hält uns mehr. Das ist der Moment der Auferstehung, eines neuen lebendigen Gefühls von Wachheit und Zufriedenheit.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

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