Verliebt

Brief an einen jungen Freund…

philippLieber Philipp

Du hast eine Trennung hinter dir! Gewiss, du hast schon sehr viele Trennungen in deinem jungen Leben erlebt! Ich weiß, du hast in deinen zwanzig Jahren viel Leid, Verlust und Enttäuschung erfahren müssen. Und jetzt wieder ein Verlust! Es ist der schwerste, den du bisher gehabt hast, sagst du. Deine erste große Liebe! Du hast sie im Internet auf einer Online-Plattform kennen gelernt…

Du hast deine Mutter früh verloren. Dein Vater interessierte sich nicht für dich. Dann kamst du früh zu deinen Großeltern, die einen (die anderen wollten dich auch nicht haben), zogst mit ihnen nach England. Eingelebt in eine neue Kultur, neue Menschen kennen gelernt. Dann kam wieder ein Tod: nach langer Krebskrankheit stirbt auch noch der Großvater. Wieder zurück nach Deutschland. Wieder komplette Neuorientierung, Wechsel, Verlust von Vertrautem.

Du sagst auch, du findest dich hässlich und fett. Niemand wollte dich in sein Herz schließen. Keine Freunde, keine Kameraden. Du vergräbst dich in die Play Station und frisst alles in dich hinein. Und nun kommt diese Frau in dein Leben! Über Monate hinweg hast du dich mit ihr virtuell ausgetauscht. Ihr habt zusammen gelacht, habt euch verstanden. Und dann, nach einigen Monaten habt ihr euch zum ersten Mal getroffen! Du hast dabei deine Jungfräulichkeit verloren. Du warst glücklich. Zum ersten Mal in deinem Leben warst du glücklich! Gingst zurück in deine Stadt.
Und dann hat sie dich einfach fallen gelassen wie ein Stück Abfall, hat nichts mehr von sich hören lassen, den Kontakt einfach abgebrochen. Aus, vorbei! Und tschüss!

Du hast keine Lust mehr zu leben, sagst du. Alles hätte keinen Sinn mehr. Es gibt für dich keine Perspektiven mehr, keinen Halt. Du hasst dich selbst. Zerbrochen, ein Scherbenhaufen dein Leben… wofür soll das alles gut sein, fragst du?

Und ich? Was sag ich dir jetzt, mein Freund? Soll ich sagen: Geh, kämpfe um diese Frau! Soll ich sagen, wird alles schon gut, nur Kopf hoch, mein Junge! Soll ich sagen: Nimm das doch alles nicht so ernst! Soll ich dir von meinen eigenen Geschichten und Enttäuschungen erzählen und dich trösten damit?
Nein, ich bin betroffen, erschüttert. Das ist alles.
Ein so junges Leben noch und schon so viel Leid, soviel Schmerz! Und dann kommen diese Gedanken in mir hoch. Ganz langsam kommen sie. Ich erinnere mich an eine Zeit in meinem eigenen Leben, als ich verliebt war! Es gab Zeiten, da hätte ich alles aufgegeben um nur noch mit dieser geliebten Frau zusammen zu sein! Also doch, sagts du jetzt vielleicht, jetzt kommt die Tröstergeschichte…
Nein, keine Tröstergeschichte. Betroffenheit verdammt!

Die erste Begegnung schon löste einen Schwarm von Gefühlen aus, diese berühmten „Schmetterlinge“ im Bauch, du weißt schon! Es war kein Platz mehr für andere Gefühle in meiner Brust. Es gab nur noch das Eine: dieses geheimnisvolle DU! DU? So frage ich mich heute. War es wirklich ein Gefühl für diesen Menschen, diesem DU gegenüber, welches da jetzt neben mir lag? Und mir doch so fremd war?

Heute muss ich ganz klar sagen: Nein, niemals! Vielmehr war es ein Bild! Mein BILD! Das Bild ist entstanden aus all den Vorstellungen und aus all den verdammt idealisierten Gedanken-gebäuden heraus, die ich diesem „Du“ entgegengebracht, „angeheftet“ und „aufgeklebt“ hatte. Der ganze Komplex dieses Gebäudes war aus Steinen meiner eigenen Vorstellungen aufgebaut worden und mit den Emotionen, die sich daraus bildeten zugepflastert. Es war ein in sich abgeschlossenes Gebilde, eine Form, die ich selbst produziert hatte und die nicht im Geringsten etwas mit dem idealisierten Abbild zu tun hatte! Nicht im Geringsten!

Und welchen Schmerz verursachte das darauf folgende „Erwachen“! Mein Gott! Nicht dass der geliebte Mensch deswegen schlechter gewesen wäre, als ich ihn mir ausgemalt hatte. Nein, in keiner Weise! Er war ganz einfach anders! Das Gegenteil ist wahrscheinlich der Fall!
Und in deinem Fall, lieber Philipp, der du diese Frau über das Internet kennengelernt hast, ist es noch ein bisschen schwieriger. Das ist deshalb so, weil du wirklich nur das von dieser Frau „gekannt“ hast, was sie dir schriftlich mitgeteilt hat. Vielleicht hattest du auch noch ein Foto von ihr. Aber du weißt ja, wie das so ist mit Fotos. Man versucht immer, die Position und die Auswahl so zu treffen, dass ein Bild möglichst vorteilhaft rüberkommt. Und Vorteil schaffen heißt nur auch wieder Illusionen schaffen. Diese Illusionen werden lange Zeit aufrechterhalten und mit anderem „Füllmaterial“ angereichert, eingepflastert.

Diese süße „rosarote Wolke“ wird immer mehr aufgeblasen. Du identifizierst dich schnell und gerne mit diesem inneren Bild. Wir kennen nur noch ein Ziel: Uns diese Wolke anzueignen, sie einzuverleiben, mit Haut und Haaren diesen Menschen an uns zu binden. Wir erleben vor allem auch immer wieder diese „Filmchen“ im Kopf, die den anderen Menschen mit uns verbinden und verkuppeln wollen. Aber nie wird uns ein Mensch gehören können, egal, ob wir verheiratet sind oder nicht. Wir haben keine Rechte auf andere Menschen, nie!

Es sind Phantasiebilder, die uns den Kopf verdrehen und von etwas Besitz ergreifen wollen, es haben möchten, für uns ganz alleine! Und der Verlust dieser Illusionen wird zu großen Schmerzen führen müssen! Du hast es erlebt, ich habe es erlebt, die meisten Menschen haben es schon erlebt und erleben es immer wieder, bis sie eines Tages vielleicht klüger werden. Die Identifikation und die seelische Verschmelzung mit dem geliebten Menschen macht uns vergessen, wer wir selbst im Innersten eigentlich sind. Und der Tod einer solchen Beziehung bedeutet unser eigener kleiner „Tod“! Aber wir haben gar nie diesen Menschen oder diese Frau geliebt, sondern immer nur ein irreales Phantombild davon, welches in dieser Weise gar nicht existiert hat. Es ist nur in unserem Kopf entstanden.

Und jetzt, was meinst du, was mit einem solchen Menschen passiert, wenn du ihm begegnest? Er fühlt sich überhaupt nicht angesprochen! Er fühlt sich nicht einmal verstanden, weil er nicht diesem von dir geschaffenen Bild entspricht, nie entsprechen kann! Er ist ein Fremder! Das ist gar keine Liebe. Denn Liebe ist reine Empathie. Wir lieben nur zu gerne unser Bild, aber nicht den nächsten.
Und der andere Mensch, diese Frau, auch sie hatte sehr wahrscheinlich ein solches Bild von dir erschaffen, welches gar nicht dir, Philipp, entsprach. Das ist die Ent-Täuschung. Die Täuschung des Bildes wird durch den realen Zustand entlarvt! Und das allein ist eigentlich schon ein Heilungsprozess, auch wenn er sehr schmerzt. Aber er ist auch gefährlich, solange man ihn nicht entlarvt!

Mach dir nun nicht auch wieder ein solches Bild von mir, wenn ich dir das alles schreibe! Es wird mit Sicherheit auch nicht der Realität entsprechen! Und du wirst wieder enttäuscht werden müssen! Sieh das als Warnung…
Und was nun? „Was fange ich, Philipp, also damit an?“ wirst du nun fragen. Und: „Auch wenn das alles stimmen mag, ich kann es ja doch nicht ändern! Es bleiben doch nur schöne Worte!“

Da will ich entschieden intervenieren und dir folgendes mit auf den Weg geben: Gewiss kannst du das ändern! Warum denn nicht? Wir müssen nur uns selbst besser kennen lernen, uns beobachten und uns selbst erkennen; erkennen, welcher Teil von uns solche Bilder produziert. Und wenn wir das bemerken, dann sind wir schon auf einem guten Weg, weil wir – nur schon durch die unmittelbare Selbstbeobachtung – uns von der Identifikation ein wenig lösen können.

Das ist ein Weg, ich weiß es, der lange dauern kann. Ich selbst hatte viele ähnliche Erlebnisse und Leiden- (schaften) wie du, bis ich diese eigentlich so banale Tatsache erkannte. Ich entdeckte plötzlich und völlig unspektakulär ein anderes Ich in mir! Einen Menschen, der hinter dieser Fassade, hinter diesem Schleier wohnt. Es war so unspektakulär, daß ich es fast übersehen hätte, weil ich spürte: Das bin Ich auch! Ich bin es! Verstehst du? Hier ist meine tiefe, unsterbliche und wirkliche Identität! Sie hat mich gerettet.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Lebensperspektiven! Lebensperspektiven?

mannEgal zu welcher Zeit ich morgens mit meinem Fahrrad den Rhein entlang zur Arbeit fahre, ob um 8, 9 Uhr oder 10 Uhr: ich treffe dort schon seit Monaten regelmäßig einen Mann an. Er sitzt immer auf derselben Bank. Er sitzt dort mit einer Zigarette im Mund. Daneben stehen zwei Büchsen billiges Bier. Sein Oberkörper ist vornübergebeugt und der Blick krallt sich am Boden fest. Ihm zu Ehren schreibe ich jetzt diesen kleinen Text.

Es ist immer das gleiche Bild, gleicher Ort, gleiche Bank. Es spielt keine Rolle ob es regnet, schneit, ob die Sonne scheint, ob es kalt ist oder warm. Der Mann sitzt einfach dort: träge, resigniert, immer mit denselben abgetragenen Klamotten am Leib.

Es geht mir jeden Morgen, wenn ich ihn sehe, so einiges durch den Kopf: Was mögen seine Lebensperspektiven sein, frage ich mich? Er hat wohl keine mehr. Es sieht so aus, als ob er die Hoffnung an alles, was „wir normalen“ noch hegen und pflegen, begraben hat. Vielleicht hat er viele Enttäuschungen erlebt! Bestimmt hat er auch keine Arbeit mehr, keine Beziehung, keine Freunde, nichts…

Auf der anderen Seite sehe ich mich! Für einen Augenblick sitze ich selbst in Gedanken auf der Bank und betrachte diesen sportlichen Radfahrer, der hier an mir vorbeiflitzt, mit vielen Bildern, Wünschen, Idealen im Kopf; mit vielen Plänen und Projekten! Ich sitze als Jener auf der Bank und betrachte mich selbst: Seltsam, wie das jetzt auf mich wirkt!
Wir beide könnten etwa im gleichen Alter sein. Der eine ohne jegliche Hoffnung, ohne Zukunft, vielleicht auch ohne Chancen! Der andere mit jener positiven Weltsicht die dem Optimisten eigen ist, mit einer offenen, vor sich liegenden Lebensperspektive, die noch einiges an Potential in sich tragen könnte.
Ich erkenne diesen Anderen, erkenne ihn in seinem Schicksal. Schließlich hab ich es schon einmal hautnah miterlebt, als sich mein um vier Jahre älterer Bruder in ähnlicher Lage das Leben nahm: Ohne eine hoffnungsvolle Perspektive, ausgebrannt, mit schwerer Alkoholproblematik. Ich müsste wissen, was jener fühlt…

Jetzt sehe ich jeden Tag, wenn ich vorbeiflitze einen Spiegel dieses Bruders vor mir. Eigentlich sollte ich nun wieder, wie so oft, auf den „Sinn des Lebens“ hinweisen, die Sache mit den Vorstellungen erwähnen, die man sich macht usw., ihm sagen: „Sieh, mein Freund: Du vergräbst dich in deine eigenen Vorstellungen von der Welt und identifizierst dich vollkommen damit. Nicht deine äußere Welt, die böse, sondern deine innere Welt, treiben dich ins Verderben! Du handelst immer so, wie du denkst, wie du dir die Dinge vorstellst. Deine ganzen Emotionen und Gefühle richten sich danach aus und beherrschen dein Leben! Löse dich von diesen Vorstellungen. Sie sind nicht DU! Es sind nur Konstrukte deiner eigenen, gelebten Biographie! Begib dich auf den Weg zu dir SELBST und du findest wieder neue Perspektiven, eine neue Ausrichtung!“

Eigentlich sollte ich ihm das sagen, denk ich. EIGENTLICH. Aber ich kann es jetzt nicht mehr. Es ist, wie wenn mir selbst die Hoffnung für dieses Schicksal abhanden gekommen ist.
Ja, und wo kommen wir denn da hin, wenn wir jedem Typen auf der Strasse ins Gewissen reden wollten? Das denke ich einen Moment und dann bin ich still! Einfach STILL!
Und schäme mich…

Wir sehen jeden Tag diese großen Unruhen, Kriege, Verbrechen, Ungerechtigkeiten auf der ganzen Welt. Sie finden nicht nur weit weg statt, in irgendeinem exotischen Land, sondern ganz nahe: Im Haus nebenan. Auf den Parkbänken der Stadt oder anonym in stillen Ecken, die vom Glimmer der Gesellschaft nicht mehr ausgeleuchtet werden. Wir twittern uns durch tausend Dinge, hin und her, und sind vollgestopft mit News, die uns all diese Ungerechtigkeiten der Welt ins Hirn hämmern und die uns viel Unheil verkünden… und zwei Minuten später: Haben wir sie wieder VERGESSEN!

Und wir empören uns darüber, wenn etwas in Ägypten, Tunesien, Russland, China oder in Nigeria nicht gemäß „unseren Vorstellungen“ läuft. VORSTELLUNGEN prägen unser Weltbild. Es gibt so viele Weltbilder. So viele, wie es Menschen gibt!

Und nun sitzt dieser Mann da am Ufer des Rheins auf dieser Bank! Ich fahre an ihm vorbei, bin längst bei der Dreirosenbrücke angelangt und habe ihn wieder vergessen. Bis zum nächsten Morgen, wenn ich ihn wieder sehe…
Es regnet. Und während dessen drehen sich meine Gedanken schon um andere Themen, währenddem die Räder meines Velos das nasse Pflaster streifen, wie wenn sie kleben würden. Ein sonderbares Geräusch. Ich nehme es nicht wahr, denn meine Gedanken versinken in die Bilder der Zukunft, an die „wichtigen“ Termine des heutigen Tages. Und ich schäme mich jetzt, wo ich gerade wieder daran denke und diesen Text schreibe, ein wenig, weil ich es immer wieder vergesse.

Aber vielleicht ist es gar nicht so, wie man denkt? Vielleicht ist jener glücklicher als ich! Er vergräbt sich nicht mehr in diese tausenden von „Wichtigkeiten“ eines vollen Terminplanes, sitzt nur da, still… und zufrieden… und macht sich keine Vorstellungen mehr…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

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