Lebensperspektiven! Lebensperspektiven?

mannEgal zu welcher Zeit ich morgens mit meinem Fahrrad den Rhein entlang zur Arbeit fahre, ob um 8, 9 Uhr oder 10 Uhr: ich treffe dort schon seit Monaten regelmäßig einen Mann an. Er sitzt immer auf derselben Bank. Er sitzt dort mit einer Zigarette im Mund. Daneben stehen zwei Büchsen billiges Bier. Sein Oberkörper ist vornübergebeugt und der Blick krallt sich am Boden fest. Ihm zu Ehren schreibe ich jetzt diesen kleinen Text.

Es ist immer das gleiche Bild, gleicher Ort, gleiche Bank. Es spielt keine Rolle ob es regnet, schneit, ob die Sonne scheint, ob es kalt ist oder warm. Der Mann sitzt einfach dort: träge, resigniert, immer mit denselben abgetragenen Klamotten am Leib.

Es geht mir jeden Morgen, wenn ich ihn sehe, so einiges durch den Kopf: Was mögen seine Lebensperspektiven sein, frage ich mich? Er hat wohl keine mehr. Es sieht so aus, als ob er die Hoffnung an alles, was „wir normalen“ noch hegen und pflegen, begraben hat. Vielleicht hat er viele Enttäuschungen erlebt! Bestimmt hat er auch keine Arbeit mehr, keine Beziehung, keine Freunde, nichts…

Auf der anderen Seite sehe ich mich! Für einen Augenblick sitze ich selbst in Gedanken auf der Bank und betrachte diesen sportlichen Radfahrer, der hier an mir vorbeiflitzt, mit vielen Bildern, Wünschen, Idealen im Kopf; mit vielen Plänen und Projekten! Ich sitze als Jener auf der Bank und betrachte mich selbst: Seltsam, wie das jetzt auf mich wirkt!
Wir beide könnten etwa im gleichen Alter sein. Der eine ohne jegliche Hoffnung, ohne Zukunft, vielleicht auch ohne Chancen! Der andere mit jener positiven Weltsicht die dem Optimisten eigen ist, mit einer offenen, vor sich liegenden Lebensperspektive, die noch einiges an Potential in sich tragen könnte.
Ich erkenne diesen Anderen, erkenne ihn in seinem Schicksal. Schließlich hab ich es schon einmal hautnah miterlebt, als sich mein um vier Jahre älterer Bruder in ähnlicher Lage das Leben nahm: Ohne eine hoffnungsvolle Perspektive, ausgebrannt, mit schwerer Alkoholproblematik. Ich müsste wissen, was jener fühlt…

Jetzt sehe ich jeden Tag, wenn ich vorbeiflitze einen Spiegel dieses Bruders vor mir. Eigentlich sollte ich nun wieder, wie so oft, auf den „Sinn des Lebens“ hinweisen, die Sache mit den Vorstellungen erwähnen, die man sich macht usw., ihm sagen: „Sieh, mein Freund: Du vergräbst dich in deine eigenen Vorstellungen von der Welt und identifizierst dich vollkommen damit. Nicht deine äußere Welt, die böse, sondern deine innere Welt, treiben dich ins Verderben! Du handelst immer so, wie du denkst, wie du dir die Dinge vorstellst. Deine ganzen Emotionen und Gefühle richten sich danach aus und beherrschen dein Leben! Löse dich von diesen Vorstellungen. Sie sind nicht DU! Es sind nur Konstrukte deiner eigenen, gelebten Biographie! Begib dich auf den Weg zu dir SELBST und du findest wieder neue Perspektiven, eine neue Ausrichtung!“

Eigentlich sollte ich ihm das sagen, denk ich. EIGENTLICH. Aber ich kann es jetzt nicht mehr. Es ist, wie wenn mir selbst die Hoffnung für dieses Schicksal abhanden gekommen ist.
Ja, und wo kommen wir denn da hin, wenn wir jedem Typen auf der Strasse ins Gewissen reden wollten? Das denke ich einen Moment und dann bin ich still! Einfach STILL!
Und schäme mich…

Wir sehen jeden Tag diese großen Unruhen, Kriege, Verbrechen, Ungerechtigkeiten auf der ganzen Welt. Sie finden nicht nur weit weg statt, in irgendeinem exotischen Land, sondern ganz nahe: Im Haus nebenan. Auf den Parkbänken der Stadt oder anonym in stillen Ecken, die vom Glimmer der Gesellschaft nicht mehr ausgeleuchtet werden. Wir twittern uns durch tausend Dinge, hin und her, und sind vollgestopft mit News, die uns all diese Ungerechtigkeiten der Welt ins Hirn hämmern und die uns viel Unheil verkünden… und zwei Minuten später: Haben wir sie wieder VERGESSEN!

Und wir empören uns darüber, wenn etwas in Ägypten, Tunesien, Russland, China oder in Nigeria nicht gemäß „unseren Vorstellungen“ läuft. VORSTELLUNGEN prägen unser Weltbild. Es gibt so viele Weltbilder. So viele, wie es Menschen gibt!

Und nun sitzt dieser Mann da am Ufer des Rheins auf dieser Bank! Ich fahre an ihm vorbei, bin längst bei der Dreirosenbrücke angelangt und habe ihn wieder vergessen. Bis zum nächsten Morgen, wenn ich ihn wieder sehe…
Es regnet. Und während dessen drehen sich meine Gedanken schon um andere Themen, währenddem die Räder meines Velos das nasse Pflaster streifen, wie wenn sie kleben würden. Ein sonderbares Geräusch. Ich nehme es nicht wahr, denn meine Gedanken versinken in die Bilder der Zukunft, an die „wichtigen“ Termine des heutigen Tages. Und ich schäme mich jetzt, wo ich gerade wieder daran denke und diesen Text schreibe, ein wenig, weil ich es immer wieder vergesse.

Aber vielleicht ist es gar nicht so, wie man denkt? Vielleicht ist jener glücklicher als ich! Er vergräbt sich nicht mehr in diese tausenden von „Wichtigkeiten“ eines vollen Terminplanes, sitzt nur da, still… und zufrieden… und macht sich keine Vorstellungen mehr…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

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