Drei geniale Schweizer

Gotthardpass
Gotthardpass

Schweiz, Anfang des 19. Jahrhunderts. Immer wieder gab es, wie auch in dieser Zeit, schillernde und herausragende Persönlichkeiten, die entscheidendes geleistet haben. Mag man heute dies oder jenes Urteil über diese Menschen haben, so muss man dennoch ihre großartigen, oft wagemutigen und selbstlosen Leistungen unverhohlen anerkennen. Damals gab es drei, die letzthin in Sat 3 vorgestellt wurden: Henry Dufour, Henry Dunant und Alfred Escher. Ohne den ersten gäbe es die Schweiz in der heutigen Form wohl nicht mehr. Der zweite lebte für eine Idee, die damals als vollkommen unrealistisch und idealistisch gegolten hat: Das „Rote Kreuz“. Und ohne den dritten wären der Gotthardtunnel und das Eisenbahnnetz, wie es heute noch besteht, sowie die internationale Anbindung der Schweiz, an den Rest Europas, wohl verloren gegangen.

Alle drei Männer haben sich gegen größten Widerstand und unter Gefährdung ihrer Gesundheit, oder gar ihres Lebens, für eine Sache eingesetzt. Und alle haben dabei den Ruhm ihrer Leistungen anderen überlassen müssen. Henry Dufour war Ingenieur, riss viele Mauern ab, plante und baute dafür sein Leben lang Brücken und vermass die ganze Schweiz, sodass auch heute noch erstklassiges Kartenmaterial vorhanden ist. Nach ihm wurde der höchste Berg Europas, die Dufourspitze, benannt. Er wurde zudem als Oberst der Tagsatzungsarmee, im Sonderbundkrieg 1847, als General eingesetzt. Dieser Krieg, der geprägt war von der Auseinandersetzung einer liberalen Schweiz gegen eine mächtige innerschweizerische, katholische Verschwörung, hatte das Potential, dieses Land zu zerreißen und anderen Mächten zu überlassen. Dass Dufour es schaffte, den Krieg zu seinen Gunsten zu entscheiden und sämtliche Sonderbundkantone kapitulierten, war nur aus seiner tiefen menschlichen Haltung seiner verfeindeten Brüder auf der anderen Seite gegenüber, zu verdanken. Denn er wollte mit seiner Kriegsführung möglichst wenig Blut vergießen, weil er sich selbst mit dem Feind menschlich verbunden fühlte. Sein oberstes Ziel war die Wiedervereinigung aller Kantone und somit der Weiterbestand der Schweiz. Selbst gegen den größten Widerstand seiner eigenen höchsten Offiziere, hielt er Angriffsbefehle zurück, versuchte lediglich den Gegner sozusagen „Schachmatt“ zu stellen, ihn zu umstellen, so dass dieser kapitulieren musste. Dies gelang ihm in fast schon genialer Art und Weise. Nur wenige Menschen starben in diesem, nur wenige Wochen dauernden, Bürgerkrieg. Die Folge war nicht nur die Wiedervereinigung, sondern auch ein verstärktes Zusammenstehen aller Kantone. Als Folge gelang es 1848, aus dem Staatenbund einen Bundesstaat Schweiz zu begründen.

Der zweite, Henry Dunant, ebenfalls in Genf geboren, wie Dufour, wuchs in einer begüterten Familie auf und erlebte bereits in Algerien und später in Norditalien viel Leid, als Napoleon III in der Schlacht von Solferino mit den Franzosen gegen die Österreicher kämpfe. Dunant kam dort in ein Lazarett und erlebte, wie von Kanonen zerrissene Soldaten und Zivilisten beider Kriegsparteien, um ihr Überleben kämpften. Er pflegte und unterstützte, unter schwersten Bedingungen, den Arzt, ohne jede medizinische Kenntnis, jedoch mit größter menschlicher Anteilnahme. Seine Briefe und Berichte, die er einer Freundin in Genf schickte, verbreiteten sich mit deren Hilfe schlagartig über die Genfer Presse in alle Welt, sodass das Tabu unmenschlichster Kriegsführung gebrochen wurde und ans Tageslicht kam. Dunant erntete nicht nur Unmut, sondern geriet in größte Not, und dies nicht nur von Seiten der Feinde, sondern auch von vielen Freunden und von seinen Familienmitgliedern. Sein Vorgehen war für diese so etwas, wie ein politischer Verrat. Gegen die größten Widerstände schrieb er ein Buch, welches schnell in ganz Europa gelesen, ebenso gelobt, wie auch zerrissen wurde. Um die Verletzten aus dem, nun noch stärker von den Franzosen kontrollierten, Lazarett zu bringen, zeichnete er mit seiner blutverschmierten Hand ein großes rotes Kreuz auf die weißen Laken der Kranken. Dunant verstand das Lazarett nie als Gefangenenlager, sondern als Krankenlager für Menschen in Not, egal, welcher Kriegspartei sie angehörten und er konnte nicht verstehen, dass man keine Mittel zur Hilfe bereitstellen wollte. Mit diesem Blutkreuz auf weißem Leinen als Fahne, ritt er mit einem Zug Kriegsverletzter, Pflegern und Zivilisten, voran, und durchquerte so die heißen Feuergefechte einer tobenden Schlacht. Beide Parteien stellten ihre Waffen sofort beiseite als sie die sich nähernde Kolonne mit den roten Kreuzen, dem christlichen Symbol beider, sahen und ließen die Menschen passieren! Aus dieser waghalsigen und wagemutigen Initiative entstand nach langen Wirren und Diskussionen schließlich das internationale rote Kreuz, als kriegsneutrale Organisation, welche von allen Staaten Europas unterzeichnet wurde.

Alfred Escher schließlich, der dritte im Bunde, war von der Idee befeuert, einerseits die von den Alpen getrennten, schweizerischen Regionen miteinander zu verbinden. In ganz Europa entstand in jener Zeit ein großes Netzwerk von Eisenbahnen.  Die Schweiz drohte mit seiner einzigen Linie (von Baden nach Zürich), langsam aber sicher, ins Abseits zu geraten. Wozu brauche man denn Eisenbahnen, beschwor vor allem wieder die ländliche Bevölkerung. Bauern und Konservative stellten sich massiv dagegen und verstanden nicht, was ihnen das Ganze bringen würde. Escher kämpfte, mit seinem damaligen Tessiner Freund, Bundesrat Stefano Franscini, um die Idee einer Verbindung vom Norden in den Süden der Schweiz und damit einer Verbindung, die die Schweiz wieder ans internationale Netz anbinden konnte. Es sollte der längste Tunnel der Welt werden! Escher war überzeugt von der Möglichkeit der Realisierung seines Projektes und konnte schließlich auch das Parlament in Bern davon überzeugen. Den Zuschlag erhielt ein gewisser Louis Favre aus Genf. Der versprach, das Projekt in 8 Jahren und zum tiefsten Preis aller Gebote, zu realisieren. Zuvor entstanden schon andere wichtige Bahnverbindungen im Land, für die sich Escher einsetzte. Escher wollte bezüglich Gotthard nicht von ausländischen Banken kontrolliert werden und gründete, ohne jede Kenntnis des Bankenwesens, in Zürich am Paradeplatz, eine kleine Bank. Auch eine Versicherungsanstalt stellte er eigens dafür auf die Beine. Beides, um die Fäden einer später gegründeten Gotthardgenossenschaft, in den landeseigenen Händen zu behalten. Sowohl die Bank, wie auch die Versicherungsgesellschaft  entwickelten sich bis heute zu weltweit renommierten Institutionen mit Namen „Credit Suisse“ und „Swiss Re“. Auch Escher musste später im Alter zusehen, wie ihm das Projekt aus den Händen glitt. Zum einen, weil sich Favre in den Kosten verschätzt hatte, was dann fast zum Stillstand des Projektes führte. Und zum anderen, weil dieser kurz darauf, an Herzversagen, verstarb. Der Bau konnte in letzter Not und nur dadurch weitergeführt werden, weil sich Alfred Escher, mit Druck von aussen, erst aus der Bank und dann auch aus dem Präsidium der Gotthardgesellschaft zurückgezogen hatte. Die Einweihung seines Lebenswerks fand schließlich ohne ihn statt. Er wurde nicht dazu eingeladen! Bundesrat Emil Welti, dem Escher selbst zu seinem Amt verholfen hatte, erntete stattdessen die Lorbeeren.

Die drei biografischen Skizzen haben bei mir einen extrem starken Eindruck hinterlassen. Wie auch immer das politische Urteil dieser Männer aussehen mag, es gibt Dinge, die ich jenseits der Grenze des Beurteilers anerkennen muss. Das eine ist die hohe moralische Kompetenz und das Eintreten für eine menschlichere Welt, welche von allen drei Männern gelebt wurde. Und das andere ist die Fähigkeit, sich in ein Fachwissen und in Verhältnisse einzuarbeiten, auch wenn man darin keinerlei Vorkenntnisse hatte. Sowohl Alfred Escher, wie auch Henry Dunant hatten in den Projekten, für welche sie all ihre Kraft und, man kann wohl sogar sagen, ihr Leben opferten, keinerlei „Professionalität“! Beide arbeiten sich „nur“ aus der Kraft der Begeisterung heraus in die Thematik ein. Sie schufen letztlich Werke, die ihren Einfluss bis in die Gegenwart nachhaltig prägen. Auch Henry Dufour war nicht als General ausgebildet worden. Er erlangte dieses Amt als Oberst einer Milizarmee. Als Ingenieur war er in einem ganz anderen Bereich ein „Profi“. Und dennoch zeigte er in der besagten Situation geniale Fähigkeiten.

Was mich in diesem Zusammenhang insbesondere immer wieder beschäftigt, ist die Frage nach der Bildung. Man beschwört gerne immer wieder die notwendige „Professionalität“ und beharrt in der Beurteilung auf angelernten, studierten, schulischen Kompetenzen. Nur solche Fähigkeiten können, so sagt man, darüber entscheiden, ob jemand imstande ist, eine Aufgabe, was immer es auch sei, zu erfüllen.

Es gibt noch viel mehr Beispiele, als die drei angeführten, die belegen könnten, dass solche Professionalität auch ein Hemmschuh sein kann, um zu wirklich genialen Lösungen zu kommen. Alles, was ich mir an Inhalten aneignen, einstudieren und anlesen kann, mögen wichtige Bausteine und Fertigkeiten sein. Wie oft ist es jedoch so, dass wir im Schulalltag schlicht zu wenig Motivation verspüren, um die nötige Tiefe des Erlernten auszuloten. Umgekehrt kennen wir alle wohl die Situation, wie schnell man lernt, wenn man mit Feuer und Interesse bei einer Sache ist. Die Titel, die wir, oft stolz, durch unser Leben tragen, haben oft nicht mehr wert, als dass sie Freischeine für manche hochdotierten Stellen bedeuten. Ob die Doktorarbeit selbst erdacht, oder bloß ein Plagiat ist, ändert daran auch nicht wirklich viel. Das Papier, welches meine Fähigkeiten ausweist, ist im besten Fall ein gutes Fundament, um in mein Berufsleben einzusteigen. Im Laufe der Jahre kommen Aufgaben an uns heran, die wir nie in einer Schule simuliert haben. Das Erlernte hilft in komplexen Themen oft wenig. Erst das Durchdringen der Aufgabe mit einem aus den Erfahrungen des Lebens geschaffenen Grundverständnis, öffnet die Tore für das Neue, Unbekannte. Eine Kraft, die Intuition genannt werden kann. Aus ihr gebiert die Genialität. Mag es noch so verschroben sein, wenn wir ein Loch durch 15 km Granit-Gestein bohren wollen, damit die Züge einst hindurch fahren können; nichts ist unmöglich, wenn es auch von den meisten Menschen im Vorfeld als verrückt bezeichnet wird.

Urs Weth, Autor von: Selbstreflexion als soziale Kernkompetenz und andere Bücher…

Schon wieder ein neuer „Rat-Geber“!

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Es gibt doch schon so viele Ratgeber, Sach- und Fachbücher! Da kommt einem schon manchmal das grosse Gähnen. Und jetzt kommst du und preist deins auch noch der Welt an. Eines mehr. Eines von tausenden und abertausenden von Büchern. Unermesslich viele. Warum soll man denn jetzt ausgerechnet dieses hier lesen!? Muss das denn sein?

Von „Wie erhöhe ich auf Kosten anderer erfolgreich meinen Aktienkurs?“ bis hin zu „Wie werde ich schnell und schmerzlos glücklich?“, alles ist vorhanden. Was gibt es nicht alles für Botschaften, die für eine bessere Welt plädieren, wenn auch oft für deine persönliche bessere Welt! Was willst denn du für eine Botschaft vermitteln? Was bringt dein Buch, deine Gedanken neues, was andere nicht bringen?

Zugegeben, eigentlich, wenn ich ehrlich bin, geht es mir fast ebenso und ich verhalte mich sehr schnell auch genau so, wenn ich einem neuen Buch begegne, was mir ein anderer anpreisen will. Nämlich mit Ablehnung und diesem: nein, nicht schon wieder! Ist doch eigentlich eine trostlose Sache!  Auch ich bin schnell mit meinem Urteil parat, wenn ich vor einer Flut von Informationen stehe und „den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehe“. Das heisst ja nichts anderes, als das „Ganze“ zu verlieren, im Anblick an die vielen Teilheiten, Informationen und Details.

Vielleicht ist dies eben genau der Grund, weshalb ich mir die Mühe genommen habe, selbst ein Buch zu schreiben?

Den Blick von der tausendfachen und unerschöpflichen Aussenwelt, der Welt der Formen, ab-, und zu mir selbst hin zu wenden… Erst so bin ich letztlich fähig, zu erkennen, woraus ich mein eigenes Urteil überhaupt bilde, woher sie kommen, welchen Grund sie haben, diese Bewertungen. Wer spricht, wenn ich „Ich“ sage… Das heisst, in welcher Kompetenz spricht dieses Ich (ich). Wer ist es in mir, der urteilt? Ich, als Weltenbürger mit all meinen angesammelten Titeln, Zeugnissen und Anerkennungen? Der „Besitzer“ eines Mercedes, Toyotas oder meinetwegen auch eines Fahrrades (wie in meinem Fall), eines Hauses, der Familie mit Kindern und tausenden von anderen Dingen? „Ich“ mit meinem Wissens- und Erfahrungsschatz, meinen Vorstellungen, die ich (vielleicht sehr erfolgreich) daraus gebildet habe und all den geschaffenen persönlichen hieraus entspringenden Vorurteilen und Denkmustern. „Ich“, mit all diesen – pardon, „Einschränkungen“? Ist das alles? Soll das alles gewesen sein? Und bin womöglich trotzdem unglücklich? Aktienkurs oben, Glück unten?

Dieses Ich (ich-es), ist/sind die Kernfrage(n) meines Buches und meiner Gedanken. Und dann eben die daraus gefundene Erkenntnis, dass es jenseits dieser Welt eine andere Ebene gibt, eine andere „Dimension“, die ich aber genau darum nicht erkenne, weil ich verwoben, verhaftet bin mit der Gedankenebene, die mich „entführt“ in die Abgründe (oder Höhenflüge) ihrer Inhalte. Und die ich eben wegen der Identifikation mit ihr nicht wahrnehmen kann/will…

Das Erleben dieser anderen Dimension kann erfahren werden. Ich habe es erlebt, es ist mir Gewissheit geworden… Nun ja, lesen kann man viel darüber: sie wird und wurde eigentlich von allen (wirklichen) Erkenntnislehrern der Vergangenheit und Gegenwart verkündet. Sie bildet zum Beispiel den Inhalt des ersten Kapitels bei Rudolf Steiners, über die Grenzen der Anthroposophie hinaus bekannten und anerkannten Buches, „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten“.

Der Kern dieser Erfahrung ist das Erleben des Gegenwartsbewusstseins. Und dieses kann nur in der Selbstbeobachtung erkundet, vielleicht besser erlebt, werden. „Selbstreflexion“, ein Begriff, den ich bewusst im Titel meines Buches gewählt habe, mag etwas moderner klingen als Selbstbeobachtung. Es ist eigentlich der einzige  Grund, warum ich ihn gewählt habe. Auch der Hintergedanke, dass ich nicht gleich in die Esoterikecke gedrückt werden möchte, spielt dabei eine Rolle. Nicht weil ich glaube, dass Esoterik etwas Schlechtes sei, sondern viel mehr, weil mir ebendiese erwähnten Vorurteile spirituellen Themen gegenüber, so prägend erscheinen. Und dies allein kann für viele schon ein Hinderungsgrund für diese, wichtigste Erfahrung des Lebens, sein. Aber gerade jene wollte ich damit ansprechen, weil ich glaube, dass diese ewigen „Grabenkämpfe“ langsam überwunden werden sollten in einer Zeit, wo bereits die moderne Wissenschaft an die Türen eines „Jenseits“ klopft.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Die Kunst in der Wirtschaft

KunstundWirtschaftLeben ist Prozess. Hegel[i] verallgemeinert den Begriff sogar so weit, dass er ihn mit „Bewegung“ schlechthin gleichsetzt. Es gibt keinen anderen als einen lebendigen Prozess. Der Prozess bedingt Bewegung. Bewegung ist ein Vorgang, welcher Entwicklung in sich trägt. Alle Entwicklung ist prozesshaft. Insofern ist dieser Begriff nichts anderes als die Beschreibung einer in der Zeitlinie verlaufenden Bewegung, welche sich auf ein unbestimmtes Ziel hin bewegt.

Was wir als Zwischenschritte darin erkennen, sind Teilprozesse einer großen, umfassenden Bewegung. Sie sind zwar tendenziell planbar, aber nicht in sich abgeschlossen und definitiv. Selbst die einfachsten Prozesse entwickeln sich nicht nach den Gesetzen unserer Vorstellung, sondern nach den Gesetzen des Lebens. Und solche Gesetze kann man erforschen und ihnen Eigenschaften abgewinnen, die sich als hilfreich erweisen im Durchschreiten von anderen Prozessen. Dabei spielt es keine Rolle, wo sie auftreten, ob im wirtschaftlichen Leben, im sozialen Leben, im kulturellen Leben oder in der Kunst.

Das Auftreten von Emotionen und Vorstellungen, welche uns im Laufe eines Lebens betreffen und bewegen, kann in immer wieder ähnlichen Schritten wahrgenommen werden.

Das “Gebilde“, welches dann entsteht, ist ein Phantomkörper unserer wahren Identität, unser Schatten. Er ist ein “Abfallprodukt” des emotionalen Reifeprozesses. Da wir aber nicht das Abfallprodukt sind, sondern dessen Produzent, müssen wir lernen, diese Prozesse zu durchdringen und zu verstehen. Erst dann erleben und erkennen wir das Bewusstsein unseres höheren Selbst oder des freien Ich. In diesem Bewusstsein sind wir selbst im Lebensprozess aktive Gestaltende.

Wenn wir lernen, den gebildeten Identifikationsstrom gewahr zu werden und ihn achtsam mitzuverfolgen, dann können wir die Abstufungen dieses Prozesses erforschen und erkennen. Die große Grundbewegung, welche alle diese Prozesse durchzieht, wurde bereits in den dreißiger Jahren von Kurt Lewin entdeckt. Sie beinhaltet die drei Grundelemente von Unfreezing, Transition und Refreezing[ii].

Was in diesen drei Grundelementen dargestellt wird, sind Hauptelemente eines Gesamtprozesses. Solche Entwicklungsvorgänge haben keine zeitliche Einschränkung. Sie sind sowohl in kurzwelligen, als auch in langwelligen Ereignissen auszumachen. Dies sind auch Grundbegriffe des Change-Managements geworden.

Wir können betrachten, was wir wollen: Ein Kunstwerk, einen wirtschaftlichen Prozess, soziale Prozesse, persönliche Entwicklungsprozesse, Kommunikationsprozesse, Krankheitsprozesse, Todesprozesse und so fort, immer wird uns derselbe Verlauf in seiner Grundstruktur entgegenkommen.

Darin sind drei deutliche Phasen erkennbar (mit anderen Worten):

1.      Stagnationsphase (Unfreezing)
2.      Widerstands- oder Rückbildungsphase (Transition)
3.      Impuls- und Umsetzungsphase (Refreezing)

Ich versuchte, die von Lewin erkannten Grundprozesse etwas differenzierter weiterzuverfolgen und sie für die eigene künstlerisch-therapeutische Arbeit nutzbar zu machen.

Unfreezing ist der erste Teil des Prozessablaufes. Hierbei können folgende Wahrnehmungen gemacht werden. Etwas bewegt sich nicht mehr weiter, es stagniert, erlahmt. Die Abläufe sind automatisiert, die Entwicklungslinie verharrt im Stillstand. Man fühlt sich stumpf! (Stufe1)

In einem zweiten Schritt entsteht so etwas, wie ein Schmerzgefühl (Stufe 2). Die Unzufriedenheit über die Stagnation macht sich nach und nach bemerkbar. Man spürt die Erstarrung und die Kälte im Prozess. Die Tatkraft geht verloren, die Begeisterung verschwindet. Alles wird freudlos. Man weiß, dass etwas Neues kommen muss. Es ist aber nicht benennbar und nicht verortbar. Der Bewusstseinszustand ist unbewusst bis träumend. Es wird uns “mulmig”. Das Anbahnen und die Ungewissheit durchsetzen uns mit Unbehagen. Der Druck von außen kann zunehmen und spürbar werden, sei dies der sich anbahnende Tod oder innere Umwälzungsprozesse oder Krisen, die sich unterschwellig so bemerkbar machen.

Was zuerst als Unzufriedenheit in Erscheinung getreten ist, wird nun zu einer Widerstandskraft oder einem inneren Widerstand, der erst aus dem zunehmenden Druck wächst (Stufe 3). Angst durchsetzt uns und erweckt Abwehr. Wir fordern zunächst das Gewohnte, Bewährte und Alte  wieder zurück und weigern uns, nach vorne zu blicken. Im Weiteren bemerken wir, dass sich etwas anbahnt. Wir erahnen die kommende Auseinandersetzung. Diese Phase ist oft sehr schmerzhaft. Weil wir gleichzeitig in unserem Bewusstsein erwachen, je näher sich der Wellengrund auf uns zu bewegt, müssen wir zum inneren Akzeptieren, zur Zustimmung finden.

Nun tritt etwas Entscheidendes ein. Wir müssen uns entscheiden. Das heißt, wir müssen Farbe bekennen. Grundsätzlich tun wir dies nach drei verschiedenen Szenarien. Zunächst tritt eine 4. Stufe an uns heran, die ich mit Akzeptanzphase bezeichnen könnte, welche in folgende drei kleinere Unterprozesse gegliedert ist:

  1. Die Bejahung
  2. Die Verneinung
  3. Die Ignoranz.

Bei der dritten schalten wir alle Bewusstseinsprozesse solange dies geht, wieder aus und verdrängen sowohl Gefühle, wie auch Gedanken im Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wandel. Wir krebsen zurück, haben den Mut nicht nach vorne zu blicken. Dies führt in die Isolation und in eine noch größere Drucksituation, welche die Entscheidung von neuem fordert.

Im ersten Szenario erkennt und anerkennt man den Wandlungsimpuls und entscheidet sich, hindurchzugehen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Klarheit über einen möglichen Verlauf vorhanden ist.

Und das Verneinungsszenario erkennt die Notwendigkeit eines Verwandlungsprozesses ebenso wenig, entscheidet sich aber vollbewusst und willentlich, auszuscheiden, auszuscheren oder umzusteigen, etwas anderes zu probieren oder vielleicht ein Re-Branding zu wagen.

Der Verwandlungsprozess wird aber nur im Bejahungsfall, also im ersten, wirklich weitergeführt. Wenn wir willentlich aussteigen, dann haben wir zwar einen Neuanfang inmitten von anderen Verhältnissen geschaffen, ohne das tieferliegende eigentliche Problem gelöst zu haben. Brüche können den Prozess zwar ebenso weiterführen. Sie werden aber an einem anderen Ort und in einer anderen Weise wieder zum selben Punkt führen müssen.

Jetzt erkennen wir die 5. Stufe. Sie zeigt sich nur im Bejahungsfall. Hier werden neue Kräfte freigemacht! Sie bringen neue Impulse und Ideen. Eine frische Dynamik entsteht, welche den Prozess wieder beflügelt und weiterführt. Der Aufwärtsschwung wird in Gang gesetzt.

In der 6. Stufe des Durchlaufes entstehen aus dem neuen Impuls neue Ideen. Sie „flattern“ gewissermaßen nur so auf uns zu und bereiten eine Vielfalt neuer Möglichkeiten vor. Jetzt entsteht wieder ein kleines Vakuum im Prozessablauf. Die Vielfalt kann uns erschlagen und chaotisch werden. Sie ist noch struktur- und formlos.

Eine kleine Zwischenkrise tritt ein. Sie verhindert die Eingliederung der Ideen in die realen Verhältnisse. Neue Hindernisse treten auf.

In der 8. Phase, der Umsetzungsphase ist Knochenarbeit angesagt. Das kann in den gruppendynamischen Prozessen Probleme verursachen. Es gilt, das Wesentliche heraus zu arbeiten, um die Kernfragen zu klären. Teamarbeit wird hier zentral.

In der 9. Phase geht es um Konsolidierung. Das Erarbeitete muss wieder integriert und eingeordnet werden. Die Abläufe werden wieder normalisiert. Der Sturm ist vorbei. Routine und Alltag machen sich erneut breit. Aus dieser Phase heraus entsteht als letzter und 10. Schritt wieder eine erneute Stabilisierung.

Solche Prozesse, wie sie hier in den 10 Phasen beschrieben sind, laufen wellenförmig durch das ganze Leben. Sie durchdringen unternehmerische, kreative und künstlerische Prozesse ebenso, wie jeden Prozess der eigenen Bewusstseinsentwicklung. Sie sind unaufhörlich, enden nie. Auch die erneute Stabilisierung wird wieder hinüberführen in die Stagnation und wird letztlich wieder von neuem eine nächste Welle auslösen. Durch die Lernerfahrung und durch Fehler erkannte neue Problemlösungen wird insgesamt eine immer neue Aufwärtsbewegungen, die Gesamtentwicklung fördern und reifer werden lassen.

Wir hangeln uns durch diese Wellen quasi hindurch. Gewinnen mehr Selbstvertrauen und innere Reife, weil wir durch Unvollkommenheiten immer mehr (Selbst-) Bewusstsein erschaffen und uns so weiter entwickeln. Das ist  eine bewusstseinsbildende Dynamik.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…


[i] Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831),deutscher Philosoph

[ii] Kurt Lewin Werkausgabe (KLW), Hrsg. Karl Friedrich Graumann, 4 Bände sind erschienen; Klett, Stuttgart ab 1980

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