Alle Menschen sind Egoisten

Von Urs Weth

Würden Sie diese Aussage unterschreiben? Sehen Sie das auch so?

Vor vielen Jahren lernte ich einen Mann kennen. Nennen wir ihn Hans. Hans war damals schon aus den politischen Ämtern ausgetreten und ging auf die 60 zu. An seinem 60 Geburtstag war ich eingeladen. Es waren viele Freunde und Bekannte aus seinem politischen Umfeld dabei, so auch Regierungsräte und Nationalräte seiner Partei. Hans war ein hochangesehener Gefährte in seinen Kreisen. Es entstand nun meinerseits eine Freundschaft zu Hans und seiner Partnerin, die er, nach seiner Trennung, kennen und lieben gelernt hatte und mit der ich vorher schon bekannt war. Wir trafen uns bald regelmäßig und gingen auch zwei, dreimal paarweise zusammen in die Ferien. Während dieser Zeit gab es ab und zu heftige Auseinandersetzungen, die gelegentlich auch in großem Streit endeten. So auch an einem Abend, als es um die menschliche Natur ging und Hans auf seinem Glaubenssatz beharrte, dass alle Menschen zum Vornherein Egoisten seine, und, dass man sie zu ihrem Glück zwingen müsse. Ich sah die Sache nicht so radikal, wusste mich aber damals nicht gut zu verteidigen.

Jetzt in dieser Weltkrise nahm ich nach vielen Jahren wieder Kontakt auf mit ihm. Inzwischen hatten wir uns, aus meinen privaten Verhältnissen heraus bedingt, lange Zeit wieder aus den Augen verloren. Hans verteidigte die Maßnahmen des Bundesrates im Rahmen der Krise aufs Schärfste. Dies trat aus seinen Äußerungen in einer E-Mail deutlich hervor. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke, musste ich an jene Auseinandersetzung im Tessin zurückdenken und an diesen Satz: „Alle Menschen sind Egoisten. Deshalb muss man sie zu ihrem Glück zwingen.“ Damals konnte ich die Dinge noch nicht im rechten Licht sehen. Heute aber lebt diese Aussage in mir als Warnzeichen wieder auf. Ich könnte diese Haltung auch als grundsätzlich verantwortlich für jene sehen, die ihre Regierung in ihren Aktivitäten loben und die Maßnahmen befürworten. Denn die innere Überzeugung, dass der Mensch grundsätzlich egoistisch sei, muss, wenn dies alternativlos dasteht, zwingend zu dieser Meinung hinführen. Freiwillig wird sich niemand an die Regeln halten. Deshalb muss man die Menschen zwingen. Freiwillig wird niemand eine Maske tragen, deshalb braucht es Maskenpflicht. Freiwillig wird sich niemand impfen lassen, deshalb braucht es den Impfzwang. Der Egoist ist derjenige, der das nicht gerne tut. Und da alle potenzielle Egoisten sind, muss man radikal vorgehen.

Diese Haltung hat zur Folge, dass man den Menschen im Grunde als eine „Fehlkonstruktion“ der Natur hält. Er ist unvollkommen und hat scheinbar auch nicht die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Diese Radikalität wurzelt in obiger Aussage, die ich aus vieler Munde in meinem Umfeld vernommen habe. Manchmal kam sie reuig und wehmütig daher. Sie kam gut gemeint und mit leichter Verbitterung zum Vorschein. Es steckt oft eine gewisse Resignation dahinter, dass es so sei. Aber man sieht keine Möglichkeiten, dies zu ändern. Damit gesteht man der Evolution keine Bewusstseinsentwicklung zu. Denn Alle sind so.

Betrachtet man diesen Satz aus einer logologischen Sicht, dann kommt man auf Folgendes. Aristoteles setzte der Logik eine These, eine Antithese und eine Synthese zugrunde. „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich“. Das ist in sich logisch. Daraus könnte man nun ableiten: „Alle Menschen sind Egoisten. Hans ist ein Mensch. Also ist er egoistisch.“ Dieser Satz ist auch in sich logisch. Der zusätzliche Schluss: „Also muss man sie, die Menschen, zu ihrem Glück zwingen“ hingegen ist ohne jeden logischen Bezug zum ersten Schluss. Die Frage ist doch: Wer ist man? Wer übernimmt die Aufgabe, die anderen zu ihrem „Glück zu zwingen“, sind doch ALLE egoistisch, der ersten Logik gemäß. Auch derjenige, der diesen Satz ausspricht, ist ein Egoist, denn er muss sich ja mit einschließen in seine These, sonst lebt er in einem Widerspruch. So kommen wir zum Schluss, dass Egoisten sich dafür einsetzen müssen, dass die anderen Egoisten nicht egoistisch sind! In dieser Haltung steckt natürlich ein großes Machtpotenzial! Das müsste geradezu eine verlockende Aufgabe sein für einen Egoisten! Man müsste jemandem zugestehen, dass er nicht so egoistisch sei, wie die anderen. Diesem etwas weniger egoistischen Menschen übertragen wir nun die Aufgabe, die anderen, größeren Egoisten zu kontrollieren. Und man muss Vertrauen haben, dass dieser Eine seine Macht nicht ausnützt. Man attestiert ihm einen gewissen Altruismus! Das ist natürlich absurd. Denn die Position, in der er steckt, brauchte eher besonders viel Egoismus. Das wird auch nicht als etwas Negatives angesehen von Hans. Er gehörte ja selbst dazu. „Man braucht eben die Ellbogen, um sich durchzusetzen“. Aber es bleibt der Widerspruch, dass von dieser Ellbogenmentalität plötzlich abgelassen werden könne, um eine gemeinnützige Sache zu meistern – und die Gunst der Stunde nicht auszunutzen! Hier greift die Logik eher im gegenteiligen Sinn. Wenn dieser Machthaber nun, wo er die Spitze seiner Macht erreicht hat, eben diese Macht zugunsten seiner Bevölkerung nicht ausnutzen darf, dann hat er womöglich ein Problem. Man muss im positiven Sinne sich durchsetzen, heißt es. Aber dieser positive Sinn muss durch das Okular der Egoität gesehen werde. Alles andere wäre bei dieser Doktrin: „Alle sind Egoisten“ nicht konsequent gedacht.

Dieser Satz ist geradezu das Glaubensbekenntnis des Teufels selbst, der sich dann an die Stelle des „Man“ setzt! Er macht sich damit Gottgleich. Er nutzt die Gelegenheit dieses Credos vieler seiner atheistisch gesinnten Mitmenschen aus, um den Menschen zu „verbessern“. Da er von der Natur nicht verbessert werden kann, hilft man durch technische Hilfsmittel nach. Damit verbunden ist natürlich auch die Frage nach der Freiheit. Es gibt für diese „Glaubensgemeinschaft“ keine Freiheit! Freiheit gibt es nur im Rahmen enger Beschränktheit. Das ist die feste Überzeugung, die zwangsläufig aus der ersten Folgerung, dass alle Menschen Egoisten seien, resultiert! Deshalb dieser Umgang mit den Menschenrechten und den Grundgesetzen, die ja nicht nur durch ein „Opfer“ zurückerobert werden müssen, sondern eine allen Menschen zugrundeliegende Basis bilden, egal welcher Gesinnung, Farbe oder Konfession sie angehören!

Man verstehe mich nicht falsch. Ich glaube nicht, dass wir frei von Egoismus seien. Darauf, dass er mich so verstanden haben wollte, lief die Diskussion mit Hans hinaus. Nur war die Alternativlosigkeit, die im menschlichen Kern angelegte Entwicklung zu leugnen für mich unhaltbar! In diese Gesinnung fließt natürlich ein gänzlich anderes soziales Verhalten mit ein. Wenn der andere ein Egoist ist, dann muss man ihm zum Vornherein misstrauen. Denn er will nichts zu meinem Vorteil, sondern alles was er tut, ist nur zu seinem eigenen Vorteil. Das ist ja der Grundsatz jeglichen Egoismus. Misstrauen braucht Kontrolle. Jeder Abweichler gilt als Egoist. Das wird zwar kritisiert, gleichzeitig aber auch als naturgemäß angesehen. Das alles läuft darauf hinaus, dass es auch durchaus angebracht ist, solche Abweichler zu strafen, denn: „Man muss sie zu ihrem Glück zwingen“, weil sie eben naturgemäß Egoisten sind. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn auch der Kritiker, der diffamiert, der über andere schimpft, ist, gemäß seiner eigenen Logik, auch ein Egoist und möchte ebenfalls nur immer alles zu seinen eigenen Gunsten. Also möchte er nicht den anderen schützen, wenn er eine Maske trägt, sondern, weil er eben ein Egoist ist, möchte er vor allem sich selbst schützen. Aber er zwingt dem anderen eine Maske auf und kritisiert ihn, wenn er sie nicht trägt, er gefährde seine Gesundheit (also die des Kritikers)! Dass er selbst die Maske zum Schutz anderer trage, ist nur eine scheinheilige Ausrede, die sich wiederum nur auf seine egoistische Haltung bezieht. Das ist ja seine Weltanschauung. Er sieht den anderen so, wie er selbst naturgemäß ist!

Man sieht, so kommt man nicht weiter und den Dämonen sind Tür und Tor geöffnet, um einzutreten! Denn auch alles Gerede von „sozial“ ist letztlich immer gefärbt von einem persönlichen Vorteil. Da kommt man nicht mehr darum herum. Ansonsten würde man sich selbst widersprechen. Zeigte man auch nur einen geringen Anteil von Mitgefühl für andere, dann würde man sich selbst in Frage stellen müssen. Dann wären die Menschen nämlich doch nicht generell nur egoistisch. Sie hätten einen Anteil in sich, der sich darüber erhebt. Und genau darauf wollte ich im Grunde hinaus in jenem Gespräch. Doch ich konnte es nicht.

Sobald man den Schritt zu dieser Erkenntnis hin gemacht hat, öffnet sich ein Schleier. Man durchbricht den Nebel der Befangenheit. Es tut sich ein kleines Licht auf. Und jenseits dieses Lichtes wohnt die wirkliche Freiheit. Sie ist kein von Natur aus gegebener Zustand, aber sie ist ein Licht auf dem Weg, das uns leitet und führt. Wir treten zunächst in eine duale Welt ein. Da ist auf der einen Seite die scheinbar „naturgegebene“ Egoität des Menschen und auf der anderen Seite eine Entwicklungsmöglichkeit, hin zu einem wirklich sozialen Wesen, fern von jedem Egoismus! Wer diesen Damm einmal gebrochen, diesen Schleier einmal gelichtet hat, der wird ihn nicht mehr loslassen. Darauf soll ein zweiter Teil meines Buches aufbauen.

Demnächst (ca. Juli 2021) erscheint ein neues Buch mit dem Titel „Die grosse Entscheidung“ im Wirkstatt-Verlag, Autor Urs Weth. ISBN: 978-3-949299-01-8

Weitere Bücher des Autors sehen Sie z.B. bei Glomer

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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