Ich bin: also gibt es keine Freiheit?

Die meiste Zeit meines Lebens verbringe ich damit, irgendwelchen Gedanken und Vorstellungen nachzujagen, die mir „etwas“ bringen sollen. Es sind Ideen, die mich befeuern oder auch nicht, aus denen ich Nahrung für meine Handlungen erhalte – oder auch nicht. Auch in der Kunst schöpfen wir doch die allermeisten Motive und Taten aus der Ideenwelt. Woraus sollen wir sie denn sonst schaffen?

So wie Goldmund, der Gegenpol des Narziss in Hermann Hesses Roman, fast sein ganzes Leben damit verbringt, den Inbegriff der Schönheit, des Schönen, zu finden und ihn in einem Kunstwerk zu verewigen. Oder Leonardo da Vinci, der Jahrzehnte seines Lebens damit beschäftigt war, seiner Mona Lisa den Hauch des Lebens einzuimpfen, so versuchen wir unseren Idealen nachzugehen und auf irgendeinem Gebiet das „Allerhöchste“, den Gipfel zu erreichen. Sei es in der Kunst oder im alltäglichen Leben: die Taten sind Produkte unserer Vorstellungen. Was ist denn daran falsch, mag man fragen? Nichts natürlich, es ist der Normalzustand unseres Bewusstseins. Nicht falsch, aber problematisch wird es dann, wenn wir den Ursprung unserer Vorstellungen nicht kennen. Wir fühlen uns mit ihnen aufs Innigste verbunden und schöpfen daraus ebenso Freude und Begeisterung, wie auch Leid und Missmut. Solche Vorstellungen können eine große Macht auf uns ausüben und auch tiefste Gefühle hervorlocken, im Sinne beider emotionalen Lagen, der nach „oben“ (in den Himmel) wie nach „unten“ (in die Hölle).

Wenn wir zum Beispiel 500 Euro gewonnen haben und uns dann vornehmen, am Nachmittag in das beste Kleidergeschäft zu gehen, um uns „etwas zu gönnen“, was wir uns sonst nicht leisten würden, dann kann diese Vorstellung ein großes Freude-, ja sogar Glücksgefühl auslösen, welches uns den ganzen Tag beflügelt! Danach, wenn der Kauf getätigt ist, entschwindet diese Freude wieder recht schnell. Der nächste „Kick“ dieser Art wird bald gesucht. In dieser Weise kompensieren wir viele Dinge in unserem Leben, die eigentlich zerstörerisch wären und die uns vielleicht nachdenklich stimmen müssten. Genauso gut kann es nämlich sein, dass uns einen Tag später, wenn wir mit dem neu erstandenen Kleid durch die Stadt gehen, ein unangenehmes Erlebnis begegnet, welches uns den Rest dieses Tages, oder länger, traurig sein lässt.

Unsere Wahrnehmungen und die damit verbundenen Gedanken sind dafür verantwortlich, ob es uns sehr gut, mittelmäßig oder eben schlecht geht. Ein Ausbrechen aus diesem Kreislauf scheint auch gänzlich unmöglich zu sein. Das Verwoben sein mit dem Alltäglichen ist derart groß, dass es für die meisten Menschen undenkbar ist, sich dem zu entziehen. Es ist für die meisten „normal“. Und dennoch muss man konstatieren, dass es so etwas wie Freiheit auf dieser Ebene gar nicht geben kann. Denn frei sein würde bedeuten, dass wir Kontrolle oder vielleicht besser die Beherrschung darüber haben, was uns bedrängt, führt oder leitet. Gefühle und Gedanken, die stets kommen und gehen, müssten uns bewusst sein und wir müssten die Fähigkeit haben, darüber zu entscheiden, ob wir sie annehmen wollen oder nicht, also im positiven Sinne reflektieren.

Das ist aber leider nicht der Fall. Also gibt es keine Freiheit? Wie steht es denn mit Gesetzen, mit Rechten und Pflichten, die wir als Bürger haben? Wenn wir einen Verbrecher verurteilen, gehen wir doch davon aus, dass er „frei“ und vollbewusst gehandelt habe. Das heißt, wir gehen davon aus, dass er wusste, was er tat. Wusste er das? Hat er wirklich in „Freiheit“ darüber entschieden, sein Opfer zu vergewaltigen, zu töten, zu berauben – oder was auch immer? Die Frage ist natürlich sehr heikel und dennoch klar. Denn das Gesetz geht davon aus, dass jeder und jede „zurechnungsfähig“ sei, das heißt, im Bewusstsein der Folgen für alle Beteiligten eine strafbare Handlung begangen habe. Es kann natürlich auch Unzurechnungsfähigkeit attestiert werden, was jedoch eher ein Sonderfall ist. Im Falle der sogenanntem „Zurechnungsfähigkeit“ müsste man davon ausgehen, dass es bei solchen Verbrechen so etwas wie Freiheit tatsächlich gibt!

Wenn es sie gibt, dann liegt sie außerhalb der Verstrickungen unseres alltäglichen Denkens. Und ob jemand aus dieser Ebene heraus handelt, kann nicht so eindeutig beurteilt werden. Wenn meine Freude davon abhängig ist, ob ich im Lotto gewinne oder mir „etwas Gutes“ tue, um glücklich zu sein, dann sind wir in der Abhängigkeit der Vorstellung „Geld“, „Reichtum“, „Ansehen“. Die Frage wäre demnach, ob die Vorstellung eine freie sei? Das können wir (als Betroffene) nur herausfinden, wenn wir versuchen, uns ihr entgegenzustellen. Wenn ich mir sagen kann, ok, heute habe ich 500 Euro gewonnen, aber ich lass das jetzt mit den Kleidern und spare mir das Geld lieber an für schlechtere Zeiten; dann haben wir die eine Vorstellung mit der anderen, vernünftigeren, ersetzt. Ist nun die „Vernünftigere“ frei?

Positive Vorstellungen können uns nicht nur Stunden, sondern Tage, Wochen oder gar Monate lang auf einem bestimmten Level der Freude halten, uns in ein „Hoch“ versetzen, oder uns gar euphorisieren. Das kann der Gedanke an die bevorstehende Rente sein, oder die Vorfreude auf ein Ereignis, welcher Art auch immer. Oder es kann die Erwartung des Urlaubs mit der Familie sein usw.

Im gleichen Maß sind aber auch negative Vorstellungen beherrschend auf unser Gemütsleben. Der Tod eines geliebten Menschen kann dazu führen, oder eine desolate Lebenslage, oder andere, schwierige Umstände und Ereignisse, die anstehen. Die Abhängigkeit unserer Freuden und Leiden von den Gedanken, die uns permanent durchziehen, ist sicherlich unbestritten. Die Frage bleibt bestehen: wie groß ist unsere Einflussnahme darauf?

Im Falle schwerer Depressionen wird man erkennen, wie schwierig es ist, solche destruktiven Vorstellungen nicht nur zu meiden, sondern vor allem, sie überhaupt zu erkennen und damit zu entschärfen! Im Fall der Manie oder von großer Freude will man sich die positiven Vorstellungen hingegen bestimmt nicht nehmen lassen. Wer will da die Stimmung vermiesen durch Infragestellung dieser Gefühle! Auch die Frage, ob man in diesem Moment frei sein, ist uns in solchen Momenten so ziemlich egal. Sie wird bestenfalls erst dann wieder gestellt, wenn das Gegenteil überwiegt, oder wenn die Gefühle nachlassen.

So schwanken wir mit dem Schiffchen unserer Persönlichkeit auf dem Ozean der Emotionen dahin. Auf und ab. Einmal ist es still und friedlich, dann soll niemand kommen und uns stören, und manchmal, oft ganz unverhofft, brausen wilde Stürme und bringen uns in Todesangst.

So wie das kleine Schiffchen auf diesen Wogen, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns den Launen des Meeres zu überlassen und das Beste daraus zu machen. Thats it.

Das Leben scheint also insofern etwas unplanbares und unberechenbares zu sein. Da bleibt für die Freiheit des Schiffchens nicht mehr viel Platz übrig. Wo also steckt sie, diese Freiheit und wer sind wir, wenn wir ich sagen?

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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