Steppenwölfe

WolfrudelSchon Hermann Hesse hat es in seinem „Steppenwolf“ beschrieben und erkannt: In unserem Inneren leben viele Aspekte der Persönlichkeit. Sie zu durchschauen ist eine wichtige Aufgabe unserer Zeit. Dies ist umso schwieriger, als wir meistens so stark verwoben sind mit diesen „Teilselbsten“, dass wir sie, im Identifikationszustand, nicht wahrnehmen können. Oft erkennen wir einzelne, schwierige in der Begegnung mit anderen Menschen.

Die meisten Menschen setzen jedoch einem problematischen Teilselbst lediglich ein etwas weniger problematisches, oft polares, entgegen. Das ist die gängige, und eigentlich logische, Konsequenz eines rein gegenständlichen Weltbildes. Warum? Weil es für ein solches Weltbild keine einheitliche, zusammenfassende Persönlichkeit gibt.

Auf einer alltäglicheren Stufe stellt sich dies so dar. Ich erzähle z.B. dauernd allen Menschen stolz und eifrig von den „großen Taten“, die ich begangen habe und bluffe ständig damit, was für ein toller Kerl ich doch bin. Das Bild von mir ist vielleicht geprägt von einer totalen Selbstüberschätzung. Der Hochmut, in dem ich möglicherweise, (das Urteil darüber fällen vor allem die Anderen…), gefangen bin, wird mir plötzlich, schlagartig bewusst. Ich schäme mich in Grund und Boden und möchte mich nur noch verkriechen. Die „Lehre“, die ich, vielleicht auf Druck der anderen, daraus ziehe ist, bescheiden zu bleiben. Ich ziehe mich vollkommen zurück. Die Konsequenz ist eine andere Fixation, die mich nun im gegenteiligen Gedanken gefangen hält: „Ich bin schlecht, ich tauge nichts“ oder ähnliches.

Das Teilchen-Bild der materialistischen Denkweise setzt diese Teile zusammen, analysiert und kombiniert sie. Und meint, das Ganze in der Summe der Teile zu finden. Diese Anschauung beruht auf der Mechanik. Deshalb können wir selbst in der modernen Medizin keine Ansätze mehr finden, die mehr als die Teile beinhalten. Der Mensch wird auf das mechanisch-funktionelle reduziert. Und dies wiederum legt das ganze Gewicht auf eben diese Teile. Teilchen beschleunigen ist das höchste, was man damit erreichen kann. Leben wird man auch so nicht schaffen können.

„Wie auch immer, was du erzählst ist dein persönlicher Glaube“. Es soll niemand von etwas anderem überzeugt werden. „Das ist Dein persönlicher Glaube…“, sagen viele und unterlassen es, weiter darüber nachzudenken; zum Beispiel darüber, was ihr persönlicher Glaube ist. Worüber soll man denn auch nachdenken? Das mechanische Denken kombiniert nur immer wieder die Teile! Daraus leite ich obige Aussage ab. Und wie sieht es in der Praxis damit aus? Möglicherweise kommt ein Mensch mit einem extremen Verhalten zum Psychiater. Er entwickelt zum Beispiel starke Aggressionen, die so mächtig sind, dass sie für sein Umfeld gefährlich werden können. Was setzen wir nun diesen Aggressionen entgegen? Man kann Medikamente geben, die jene Bereiche des Gehirns zum Stoppen bringen, welche das aggressive Verhalten blockieren. Das ist ein (zu) häufig praktizierter, und für die Medizin relativ einfacher und lukrativer, Weg. Dadurch wird das Bewusstsein des Klienten nicht nur gehemmt, sondern es treten in den meisten Fällen starke Nebenwirkungen auf.

Der andere, etwas schwierigere Weg wird es sein, das Verhalten über eine Psychoanalyse zu steuern. Maßnahmen, die im Gespräch gefunden werden, können eine Linderung sehr wohl unterstützen. Bei diesem Verfahren wird es sinnvoll sein, behutsam vorzugehen. Herauszufinden, was diese Aggressionen auslöst, wird die zentrale Fragestellung sein. Es können aber durchaus auch sinnvolle Begleitmaßnahmen ergriffen werden, welche in ähnlicher Weise dazu beitragen, „das Gemüt zu beruhigen“. Kunsttherapien zum Beispiel sind hier oft sehr sinnvoll. Malen, Plastizieren, Musik, oder andere Mittel, können helfen, das Verhalten in andere Bahnen zu lenken. Immer vorausgesetzt, der Klient erkennt sein Problem selber und ist bereit, aktiv mitzuarbeiten. Das Beispiel ist natürlich für die Anschaulichkeit völlig vereinfacht dargestellt, weil sich Aggressionen oft oder meistens aus einer übergeordneten Belastung ergeben. Hier geht es mir nur darum, das Prinzipielle darzustellen.

All diese Mittel schaffen jedoch noch immer keine Einsicht im Sinne einer Selbst-Erkenntnis. Das Teilselbstkonzept „Aggression“ wird lediglich durch ein anderes ersetzt. Es kann durchaus vernünftig sein, es „austauschen“ und in vielen Fällen wird es sogar unumgänglich sein, das Verhalten so von außen zu steuern. Im Sinne einer akuten Unterstützung, oder wenn Gefährdung der Umwelt damit verbunden ist, muss zuerst einmal Ruhe in die Emotionen hinein gebracht werden. Diese Ruhe kann durch verschiedene Hilfsmittel erfolgreich gestützt werden. Sie wurden jetzt aufgezählt: Medikamente, begleitende künstlerische Therapien, Gespräche und Verhaltenstherapien usw. So kann es, je nach Situation des Klienten, auch Hilfe verschaffen, wenn er sich z.B. einen Hund anschafft, oder beginnt, zu joggen, oder dies oder jenes in seinen Lebensalltag einbaut, was diese Wirkung unterstützt.

Alle diese Formen der Therapie schaffen etwas Neues, einen neuen Lebensaspekt, eine neue Lebensweise oder wie man dies auch nennen mag. In besonders hartnäckigen Fällen wird es nie mit „weichen Mitteln“ gelingen und eine lebenslange medikamentöse „Ruhigstellung“ wird unumgänglich sein. Gegen alle diese Konzepte ist im Grunde nichts einzuwenden und sie müssen wohl immer wieder akut gehandhabt werden. Dennoch haben sie alle eines gemeinsam: Sie bringen den betroffenen Menschen nicht an sein eigenes Zentrum heran, sondern weiter davon weg. Denn zur wirklichen Selbsterkenntnis gehört die Beobachtungsfähigkeit und Wachsamkeit sich selbst gegenüber. Die Fähigkeit, Distanz zu schaffen zu diesen Emotionen und Gedanken, sie zu erkennen und ihnen damit ihre Schärfe zu nehmen. Meines Erachtens müsste die Unterstützung in diese Richtung wesentlich stärker ins Auge gefasst werden. Das Heraustreten aus den mächtigen Gewohnheiten und Steuerungsmechanismen, die wir im Laufe eines Lebens geschaffen haben und immer wieder neu erschaffen, bedeutet, einen neuen, übergeordneten Standpunkt zu finden. Die Erfahrung, dass wir mehr sind als nur sich immer wiederholende, unbelehrbare Automaten ist der erste Schritt dazu. Er kann sich allein schon darin zeigen, dass wir innerhalb der Teil-Selbste den Standpunkt wechseln. Hier bleiben wir jedoch auf einer Ebene stehen. Gleichzeitig wird ein neuer Bewusstseins-Schritt gefordert, der es erst ermöglicht, innere, angelernte Kreisläufe in der Selbstreflexion zu durchbrechen…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

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