Illusion der Leere

LeereIn vielen asiatischen Religionen oder Weltanschauungen, die ja auch hierzulande immer populärer werden, ist sie ein ideal, sozusagen das Ende, der Gipfel jeder spirituellen Entwicklung: die innere Leere. Damit ist vor allem gemeint, ein leer sein von Gedanken und Vorstellungen, die den Adepten durchziehen und ihm die Erfahrung des ewigen Seins verbauen. Diese finale Erfahrung, die allerorten als „friedvolle Glücksmomente“ oder als „tiefe innere Stille“ beschrieben und erlebt werden, sind in diesem Kontext das oberste Ziel jeder menschlichen Entwicklung.

Dabei werden oft die Gedanken als der böse Belzebub in den Fokus jeglicher Hemmnis gerückt und deren zerstörerische Wirkung in die Verantwortung mangelnder Tiefenerfahrung geschoben. Das ist der erste zentrale Punkt, an dem sich die Gemüter streiten. Der zweite ist die Verhaftung mit dem „ich“, welcher, als Konsequenz dieser unaufhörlichen Denktätigkeit, die Schuld zugeschoben wird.
Das Denken und diese dauernde Identifikation scheinen demnach Urheber und Hemmschuh jeder spirituellen Entwicklung zu sein und müssen „gelöscht“ werden.

Auch ich habe im Buch über „Selbstreflexion“ viel über diese Themen geschrieben. Dennoch grenze ich mich deutlich von den so dargestellten Vorstellungen ab und halte die Erreichung dieser Art von Leere für eine große Illusion. Folgende Gründe möchte ich dazu anfügen.

Das doppelte Denken

Zum ersten Punkt, dem Ideal innerer Leere näher zu kommen, könnte folgender Gedanke behilflich sein. Zwei Erfahrungsebenen menschlichen Erlebens werden mit einem einzigen Begriff belegt. Das erste ist die Erfahrungsebene der „Vorstellungen“. Das zweite jene des „Denkens“. Die erste ist passiv, die zweite aktiv. Diese beiden unterscheiden sich im Kern durch Qualitäten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und müssen unterschieden werden. auch wenn sie sich für den naiven Realisten gleich anfühlen.

Wenn ich sage: „die Farbe blau gefällt mir am besten“, dann drücke ich damit ein Verhältnis aus, welches mein inneres Seelenleben in Bezug setzt zu einer inneren, persönlichen Welt und damit zur zur Bildung meiner Vorstellung. Das tue ich, indem ich mein Denken in Bezug setze zu meinen Gefühlen, zum Körper, zu den persönlichen Emotionen, die sich aus meiner eigenen Geschichte ergeben. Das ist schön und selbstverständlich legitim! Aufgepasst: Es geht um die Unterscheidung, nicht um die Wertung!
Wenn ich hingegen sage: „die Farbe Blau unterscheidet sich von der Farbe Rot“, dann habe ich kein persönliches Verhältnis damit ausgedrückt, sondern eine universell gültige Tatsache, die sich aus der Wahrnehmung beider Farben und einem Vergleich zusammen mit einem aktiven Denkprozess ergibt. Dazu muss ich den Standpunkt nach außen verlegen. Beide male benutzte ich meine Denkfähigkeit, setzte sie aber unterschiedlich ein.

Wenn ich nun den Gedanken ausspreche: „die innere Leere ist das Ziel jeder spirituellen Entwicklung“, dann könnte man sich darüber streiten, ob es eine universelle oder nur eine persönliche Wahrheit darstellt. In solchen Fällen kann es durchaus ebenso auf einem aktiven Denkprozess beruhen, der sich aber auf einer persönliche Erfahrung stützt. Gesetzt der Fall, dass ich sie tatsächlich erreiche, als Übender dieses Gedankenkonzeptes, diese innere Leere erreiche, dann bin ich in dem Moment  zugleich „frei von jeglichen Gedanken“. Da ich diese selbst aber dazu benutzte, um später gegenüber anderen, von den erreichten Erlebnissen zu berichten, bin ich entweder der Illusion verfallen, wirklich leer zu sein (denn scheinbar war ein erinnerndes Bewusstsein gleichwohl noch vorhanden, sonst hätte ich nachher keine Kenntnisse darüber), oder ich war wirklich leer, dann könnte ich dieses Erlebnis aber niemanden mehr mitteilen, da ich es selber vergessen hätte. Die Erfahrung dieser Glücksmomente müssen irgendwo (außerhalb der Leere, quasi in einem Erinnerungspool) gespeichert worden sein. Wovon ich leer geworden bin, mögen meine Vorstellungen sein, die passiven Gedanken, die ständig durch meinen Kopf ziehen, unaufhaltsam und ohne mein Zutun. Aber „etwas“ ist geblieben und hat sich in diesem Erinnerungspool erhalten. Nenne es Bewusstsein oder Gedanke, jedenfalls lassen sie sich im Nachhinein wahrnehmen und wieder zu Gedanken zusammensetzen. Sie verhindern sozusagen das Selbstvergessen und damit auch die Möglichkeit des Nachempfindens irgendwelcher Gefühle!

Das doppelte Ich

Zwingend mit dieser Tatsache verbunden, ist aber genauso der Begriff des „ich“. Auch hier muss man ihn in zweierlei Richtungen einsetzen! Das erste ist das Erleben der Verhaftung mit den Gedanken, das zweite die Erinnerung daran („Erinnerungspool“). Bin ich nämlich wirklich und endgültig verhaftet, und gäbe es nur ein einziges ich, nämlich das kleine, dann könnte ich nicht gleichzeitig ein Bewusstsein darüber haben, dass ich (Ich?) es bin. So gesehen würde ich mich quasi in einem Tunnel befinden (im „Ego Tunnel“ des Thomas Metzinger), wüsste aber nichts davon!

Fazit ist: Das Wissen um solche Identifikationen kann nur ein Bewusstsein mit einem Aussenblick haben! Der „feste Punkt“ oder ein Gefäss, welches nun auf diese Weise entsteht, ist nicht auf derselben Ebene wie das identifizierte kleine ich, wenngleich es mit ihm verbunden ist! Auf Begriffe kommt es in diesem Falle nicht an, ich kann das kleine X nennen und das andere Y, oder Ego und Ich usw. Wichtig ist die Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Bewusstseinsebenen! Nur auf diese Weise kann der Damm der Erkenntnisgrenze gebrochen werden und die Verwurzelung zum geistigen Ursprung wiederhergestellt werden, beziehungsweise die unmittelbare Erfahrung desselben. Dies zweite ist auch die Ebene, von welcher aus ich „Selbst-Reflexion“ meine! Auch wenn der Begriff „Reflexion“ vielleicht ungünstig ist und besser von „Selbst- Beobachtung“ gesprochen werden müsste. Eine Reflexion, die quasi kontrollierend und urteilend gegenübersteht, findet immer nur auf der unteren Ebene statt. Sie geschieht dadurch, dass wir uns aus dem einen Teilselbst lösen und von einem anderen auf dieses Eine blicken. Zum Beispiel aus der „Vaterrolle“ auf unser kindliches Verhalten in einer bestimmten Situation usw. Das kann durchaus psychologisch interessant und gut sein, bleibt aber für die angesprochene Erfahrung irrelevant.

Aus diesem Grund ist die Phrase zur Erreichung der inneren Leere (vielleicht besser „Stille“), bestenfalls eine Krücke, die quasi an ein Erlebnis heranführen will, nämlich an jenes unserer eigenen Doppelnatur. Die Verbindung mit dem universellen Keim unseres Bewusstseins darf dabei nicht übersehen werden. Der „Fall“ ins „Nichts“ ist aber nicht nur eine Illusion, sondern zudem auch gefährlich für unsere psychische Struktur. Die Abkoppelung von dem universellen Erleben und die Einbindung in ein wunderschön ausgeschmücktes „Gefängnis“ kann die Folge sein, eines unüberprüfbaren Wolkenkuckucksheim des schönen Scheins. Deshalb betonen viele grosse spirituelle Lehrer die Wichtigkeit der Charakterschulung, bevor man die ersten konkreten spirituellen Schritte unternimmt. Rudolf Steiner z.B. mahnt in seiner Schrift „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten“ eindringlich und unmissverständlich,  immer erst drei Schritte in der Charakterbildung und einen in der konkreten Schulung der Hellsichtigkeit zu tun…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

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