Mit fremden Augen sehen…

Fremde AugenSehr gerne würde ich einmal in die Augen anderer Menschen hineinschlüpfen. Wie würde ich die Welt aus deren Blickwinkel wohl sehen? Ganz banale Dinge, wie einen Stuhl, einen Tisch, einen Baum durch ihren Blick wahrnehmen. Auch wenn es dasselbe Objekt ist, was ich da vor Augen hätte, so würde ich mit Sicherheit doch nicht dasselbe sehen.

Es wäre sicher falsch davon auszugehen, dass wir dasselbe sehen würden. Denn mit den Augen sind unsere Vorstellungen und unsere Gedanken über die Dinge, die wir sehen, eng verknüpft . Wir sehen nie wirklich objektiv!
Der mit der Wahrnehmung verknüpfte Gedanke entstellt jedes Objekt und bringt es in einen rein subjektiven, persönlichen Zusammenhang. Ich würde vermutlich sehr erstaunt sein darüber, was ich mit den Augen des anderen sehen würde. Ja, ich würde schon gar nicht dieselben Dinge anschauen, wenn ich durch die Stadt gehen würde. Vielleicht würde ich plötzlich Objekte erkennen, die ich vorher noch nie gesehen habe, die mir bisher niemals aufgefallen sind, weil ich ganz einfach den Sinn dafür nicht hatte. Es wäre mir z.B. wichtig, welche Schuhe die Menschen anhaben, oder ob ihre Fingernägel gepflegt seien!
Ich würde Läden entdecken, von denen ich keine Ahnung hatte, dass es sie überhaupt gibt. Und selbstverständlich würde mir alles vollkommen fremd vorkommen, sehr fremd, weil das innere Bild, welches ich mit diesen Wahrnehmungen verknüpfte, keinen Gleichklang mit meiner eigenen Sichtweise mehr fände. Es wäre nicht mehr dieselbe, „meine“, Stadt, die ich vorher so gut gekannt hatte. Es wären nicht mehr dieselben Menschen, mit denen ich verkehrte. Vielleicht würde ich sogar ein bisschen ver – rückt…

Alles, was wir sehen, verbinden wir mit unserer persönlichen Welt und es bildet sich daraus eine abgeschlossene, subjektive, eigene (Innen-) Welt. Sie ist für andere Menschen oft nur schwer nachvollziehbar oder nacherlebbar. Selbst dieser Text ist aus einem Gehirn geflossen, welches vollkommen andere Inhalte hat, als der oder die Leserin es haben mögen. Manchmal, wenn wir Glück haben, geht „etwas“ auf geheimnisvolle Weise zusammen, aber das ist doch verhältnismässig selten. Viel häufiger ist diese “ja, aber…“- Einwendung zu vernehmen. Wenige Menschen können etwas, was ihnen von außen zukommt (oder zufällt), bedingungslos annehmen.

Warum ist das so? Warum fühlen wir uns immer so kompetent und souverän dem anderen gegenüber? Sicher, es gibt viele Fragen, in denen wir uns zurückhalten sollten, wo wir eingestehen müssen, dass wir nichts von der Sache verstehen und wo wir uns gerne belehren lassen. In jüngeren Jahren vielleicht noch öfters, als in älteren. Aus meiner Erfahrung heraus, die natürlich auch eine ganz persönliche ist, überwiegt aber das moderat gewichtige „Kompetenzverhalten“ bei vielen Menschen. Dabei sind Kommentare, wie oben erwähnt, doch eher selten zu hören. Viel häufiger ist doch das “ja, aber…“…

Die mit den Wahrnehmungen und Erlebnissen verbundenen Gedanken sind Produkte unserer eigenen, individualisierten Biographie. Im Grunde können wir sie mit niemandem teilen. Es braucht auf dieser Ebene der Kommunikation immer ein gewisses Entgegenkommen und Wohlwollen des Gesprächspartners. Die „Meinungsprodukte“ (oder Konstrukte) werden durch die Erinnerung und durch Bestätigung von aussen, die wir uns oft erkämpfen müssen/wollen, zunehmend gestärkt und verfestigt. Es bilden sich aus schmalen Waldpfaden nach und nach breite “Autobahnen“ neuronaler Datenverknüpfungen in unserem Gehirn! Je mehr wir in unserem Gedankenkonstrukt bestätigt werden, sei es durch entsprechende Erlebnisse: “siehst du, ich habe es immer gesagt, dass es so kommen werde…“, oder sei es durch das Einholen äußerer Bestätigungen: “…bin ich nicht gut!?!“. So werden aus den objektiven Wahrnehmungen mit der Zeit stark gefärbte Verhärtungen und Fixierungen, denen wir uns kaum mehr entziehen können.

Die Dinge werden dann halt so gesehen, wie wir sie sehen wollen. Das geht zuweilen unter die Ratio, bis in konstitutionelle und instinktive Verankerungen hinein… Hier nützen keine verstandesmässigen Zugeständnisse mehr. Es gibt auch in der Politik kultivierte Bestätigungsmodelle: sie heißen CDU, SP, FDP, SVP, Grüne oder auch anders. Das persönliche Abweichen von den Parteiprogrammen führt oft zu Gruppenzwang oder Ausschluss. Auf diese Art und Weise wird sichergestellt, dass geordnete, vorgegebene Gedanken, Programme und Strukturen aufrecht erhalten bleiben, selbst wenn es einem vernünftigen Sachverhalt widerspricht. Man nennt das zuweilen auch Gehirnwäsche. Aber nicht nur in der Politik ist solches zu finden. Auch in der Gesellschaft sind viele bindende Konventionen verankert, die zuweilen keine Spielräume für eine Öffnung mehr bieten. Dies alles würde uns erst dann wirklich bewusst werden, wenn wir in andere Menschen hineinschlüpfen könnten. Vielleicht hilft manchmal nur schon dieser Gedanke weiter, um auf andere Gedanken zu kommen. Das kann ein Anfang sein…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

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