Fremdbilder sind nie objektiv

fenster„Ein objektives Bild des anderen Menschen gibt es nie.
Jedes Bild, jedes Urteil ist gezwungenermaßen falsch. Nur mit einer einzigen Ausnahme:
In der Liebe erkennen wir die Einheit im Anderen, das Verbindende.“ uw

Haben wir die Liebe nicht, so verzerrt sich dieses Bild und wird abgewandelt nach den Mustern meiner eigenen Vorstellungen und Bilder, die ich in meinem bisherigen Leben aufgebaut und verinnerlicht habe. Verinnerlicht heißt in diesem Falle auch abgetrennt, abgegliedert vom Wesentlichen und Ganzen, ohne den großen Zusammenhang zu behalten. Das Lebendige wurde entfernt, die Kraft des alles durchziehenden Geistes dem goldenen Kalb geopfert.

Das abgetrennte „Ich“, wir nennen es Ego, kann nur sich selbst betrachten und erkennen (in der Selbst-Reflexion). Im Erkenntnisakt selber wächst es aber über sich hinaus und erlebt sich als Einheit, in der Wirklichkeit der Einheit, im Verbindenden, in dem, was oft „Gott“ genannt wird. Schon deshalb kann Gott nichts von mir Abgetrenntes sein. Jede Abtrennung widerspricht sich selbst, weil sie nicht alles mitumfassen kann. Und dieses All-Umfassen ist das einzige Kriterium für den Gottesbegriff. So umfasst es auch mich, aber nicht im gleichen Sinne, wie die Welt der Dinge mich einbettet und umfasst. Vielmehr durchdringt es mich, ähnlich wie die Luft, das Wasser, der Atem mit durchdringt. Tut er es nicht mehr, so stirbt mein Körper. Die Luft, der Atem aber, lebt weiter, er verliert nur einen seiner physischen Träger.

So muss jedes individualisierte Gottesbild, auch wenn es in Kirchen und Religionen institutionalisiert wird, am Ziel wahrer Liebe vorbei schießen. Solche „Götter“ dienen nur den Vorstellungen ihrer Träger. Sie schaffen ein Gefäß von Glaubenslehren und Dogmen, die sich nie durch wirkliche Einsicht, sondern durch Konditionierung und Tradition fortpflanzen.

Das Erkennen des anderen Menschen wird also ohne die Liebe verunmöglicht. Was wir sehen und wahrnehmen, entspricht nie dem wirklichen Kern des Anderen, sondern vielmehr dem persönlichen Konglomerat von selbst geschaffenen Einsichten, die mich in meiner eigenen Entwicklung betreffen.

Es wird eine der größten Aufgaben der Menschheit der nächsten zwei, drei Generationen sein, dies mit letzter Konsequenz zu durchschauen. Das größte Gut menschlichen Daseins, die Liebe, muss vom bloßen Wort zur Tat-Sache werden. Dabei muss sie vom Schlamm festgefahrener Vorstellungen befreit werden. Denn auch sie ist letztlich nur ein Begriff, der gefüllt ist mit den persönlichen Ideen seines Trägers.

Für den Einen ist Liebe schlicht Sex, für den anderen ein Empfinden rein platonischer Art. Wieder für andere ist es eine spezielle Form von Sympathie, ohne genauere Vorstellungen zu haben, wie sie von anderen ähnlichen Gefühlen zu unterscheiden sei. Manche wollen sie gar nicht definiert haben. Und in der Tat ist das Herunterbrechen auf solche Attribute niemals befriedigend. Im oben genannten Sinn verstanden, hat sie immer diesen Aspekt des Umfassenden, einer tieferen Erkenntnis vom göttlichen Kern jedes Menschen.

Erst die Erkenntnis von sich selbst bringt jenes Organ zum Leuchten, welches auch nach außen die reine Wahrnehmung, und somit die Liebe, ermöglicht. Sie ist befreit vom Schlamm der persönlichen vorgeprägten Muster und Strukturen des physischen Gehirns, welches sich nur allzu gern auf die Bequemlichkeit fertiger Ur-Teile stützt – statt Neues zu erkunden. Die befestigten Bahnen dieses äußeren Organs geben uns zugegebenermaßen Halt und Sicherheit im Denken. Sie möchten sich auch gern immer wieder bestätigt wissen und suchen ihre Inhalte immer nur dort, wo sie diese bekommen. Mit entsprechenden Konsequenzen…

Das Opfer jeder ernst gemeinten Selbsterkenntnis besteht also zunächst darin, diesen Halt aufzugeben, die Blasen einer inneren persönlichen Sicherheit platzen zu lassen, um danach das größte aller Geschenke zu erhalten, was es gibt: innere Ruhe und Frieden mit sich selbst. Dieser Weg ist schmerzvoll und hart, denn alles, was wir so sicher glaubten, was so gewiss war und was uns in unserem bisherigen Leben getragen, aber auch verletzt hat, stirbt mit diesem Akt wirklicher Selbstbeobachtung. Zugleich erwacht das neue Gefühl einer nie gekannten Freiheit in uns.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

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