Und habt ihr die Liebe nicht… | erster Teil

rotes herzErster Teil | „Und habt Ihr die Liebe nicht…“ steht bei Paulus in den Römerbriefen wiederholt geschrieben. Welch ein geflügeltes Wort für viele Facetten des Lebens und einem bunten Strauß von Emotionen unserer Persönlichkeit, sei sie nun frei oder gebunden. Ist Sexualität Liebe! Oder ist Liebe Sexualität? Rein „platonische“ Verbindungen? Sind sie auch Liebe? Oder Seelenverwandt-schaft? Es gibt Sprachen, in denen die Liebe, wie wir sie kennen, in hunderte von Begriffen differenziert ist.

Verliebtheit und Liebe, wie steht es damit? Für alles wird derselbe Ausdruck verwendet. Es ist der Ausdruck für ein wunderbares Gefühl, was uns im Herzen trifft. Wer liebt, spürt vielleicht, wie sich „etwas dreht“, bei manchen im Bauch, bei anderen im Herzen, wie die berühmten Schmetterlinge. Punkt. Das wars. Mehr brauchen wir eigentlich nicht mehr zu erklären oder? Jeder von uns weiß Bescheid! Und dennoch sind sehr unterschiedliche Erfahrungen und Erlebnisse damit verbunden. Im Laufe unseres Lebens marschierten wir vermutlich alle durch viele verschiedene solche Liebesgeschichten und «Liebschaften» hindurch. Zwei (oder drei) Aspekte spielen hier die Hauptrolle: Ein Ich (in Beziehung zu einem Du) und ein Es! Der Schatten des Letzteren schleicht über alles hinweg und durch vieles hindurch. Er verdunkelte manche Gefühle im Lauf unserer Lebens- und Liebesgeschichte. Warum ist es denn so schwer, über die Liebe zu sprechen? Warum empfinden wir sie so unterschiedlich? Warum liebe ich diese Frau so sehr und sie mich nicht? Oder umgekehrt? Liebe kommt und geht. So scheint es. Gibt es die „Liebe des Lebens“? Oder sind das alles Wunschvorstellungen eines idealisierten Ichs? Fakt ist: Das gebundene Ich bleibt auch in der Liebe gebunden. Diese Gebundenheit zeigt sich in einem Blumenstrauss äußerst vielfältiger Variationen. Und kaum einer würde zugeben, dass er gebunden ist, weil das Es immer in der Illusion der Freiheit lebt, solange es sich nicht selbst erkennt. Verhaftungen sind nur deshalb unfrei, weil sie nicht erkannt und letztlich integriert werden.

Aber jetzt, wo wir das wissen und vielleicht ein kleines Stück des Wegs weiter gegangen sind? Was ist jetzt? Sind wir jetzt glücklich geworden? Nein? Wenn sich ein verheirateter Mann in eine andere Frau verliebt, wird er tausend Rechtfertigungsgründe dafür finden, was jetzt besser sei in der neuen Beziehung! Von seinem sexuellem Mangel wird er vielleicht erzählen oder über «Seelenverwandt-schaft» mit der neuen Partnerin. Er spricht davon, wie sich seine Beziehung «ausgelebt» habe, «ausgetrocknet» sei. Wie man sich nichts mehr zu sagen habe, nicht mehr dieselben Interessen habe und so weiter. Er hat sich «frisch» verliebt! Aber was heißt hier frisch? Die alte Liebe war auch einmal frisch, nun ist sie ausgeleiert, erloschen? Also holt man sich einen neuen Kick? So einfach ist das? Wohl kaum…

Der Alltag in einer Partnerschaft bringt Menschen oft näher zusammen als sie es gerne hätten. Kleinigkeiten sind es, die uns dann plötzlich unendlich ärgern. Wie jemand schnäuzt, sich bewegt, wie er/sie Luft holt beim Sprechen, wie er/sie isst, wie er/sie die Gabel hält oder die Zahnpasta Tube ausdrückt und so weiter. Es sind immer wieder diese Kleinigkeiten, die zu wuchern und zu wachsen beginnen und uns vom anderen zunehmend trennen. Dasselbe tat er/sie auch schon damals, als man sich kennen lernte und bis «über beide Ohren» verliebt war. Da hat es keinen gestört, es war «schnusig» oder «süß» oder man hat es gar nicht erst beachtet…

Doch dann beginnt langsam die Mühle des Alltags an dem Bild dieses einst so geliebten «Wundermenschen» zu reiben. Die Mühlräder des Es beginnen, dieses Bild zu zerstören. Vielleicht wird jede Alltagshandlung bald zur Marter. Die Gedanken heften sich plötzlich nur noch an die «Macken» des anderen (die letztlich mit einem selber zu tun haben?). Sie werden aufgeblasen, bis sie das Schöne, was man einst so liebte, zu verdecken beginnen. Aus dem einstigen Wundermenschen wird jetzt ein Zahnpasta-Tuben-Monster oder ein Nasengrübler oder ein Haarfetischist. Der Alltag zermalmt, was wir einst als große Liebe gesehen haben. In einer Fernbeziehung, «Mailbeziehung» oder mit anderen sozialen Medien, wird man mit diesen Dingen des Alltags nicht konfrontiert. Jeder versucht seine beste und vorteilhafteste Seite zu zeigen.

Ein egoistischer Kreislauf des Es beginnt sich so auszubreiten. Ist es denkbar, dass die wirkliche Liebeserfahrung erst beginnt, wenn diese Phase abgeschlossen ist? Wenn wir das «Es» des anderen Menschen zur Genüge kennen und ihm vielleicht überdrüssig geworden sind? Gibt uns der Alltag vielleicht erst dann die Chance, wirklich und wahrhaftig lieben zu lernen, was ja nichts anderes heisst, als den anderen im Kern, in seinem Wesen zu erkennen? Erst jetzt, wo wir anfangen, das Es des anderen zu lieben? Heißt Lieben vielleicht auch hier: Integration! So, wie das eigene Es wieder Ich werden will, zu sich genommen und dann erst verwandelt werden will, so müsste auch das Es den anderen Menschen in einer wirklichen Liebe, die diesen Namen verdient, integriert werden? Diesmal nicht bei ihm/ihr – den Weg muss er/sie selbst gehen – sondern auch bei mir? Ermöglicht dieses Integrieren der „Teilselbste“  des Anderen in mir erst, sein eigenes Es zu erkennen und im Selbst zu integrieren? Jetzt nicht durch ständigen Tadel und mit Nörgelei, sondern schlicht und ergreifend durch Akzeptanz? Das würde heißen: «Es» gehört zum anderen Menschen und trifft auf mich. Und weil Es auf mich trifft, betrifft «Es» mich?

Jede wirkliche und nachhaltige Verwandlung basiert auf Integration, sowohl bei mir, wie beim anderen: «Liebe den anderen (den nächsten) wie dich selbst“. Auch das steht im christlichen Kontext zuoberst. Die meisten Beziehungen enden, weil sie die Illusion der ersten Verliebtheit aufrechterhalten wollen. Diese Verliebtheit war ein Geschenk. Wer es zu halten versucht, der (ent-) täuscht sich und den anderen. Es hat sich aus irgendwelchen mystischen Gründen zwischen zwei Menschen ergeben. Man nenne es Naturtrieb, Karma oder Seelenverwandtschaft.

Wie auch immer. Es ist einfach. Das eine oder andere – oder alle diese – mögen eine Rolle spielen. Und warum bitte soll man(n)/frau sich denn nicht in einen anderen Menschen verlieben können? Wer sagt uns denn, dass wir an einen einzigen Menschen in ewiger Dauer („bis dass der Tod uns scheidet“) gebunden bleiben? Viele Liebespaare suchen ihren Partner nach den Kriterien der eigenen «Großartigkeit» aus! Bis hinein in die äußeren Merkmale. Passen die nach außen projizierten Ideale zum eigenen konstruierten Selbstbild, fühlt man so etwas wie „Verliebtheit“. Es entwickelt sich solchermassen eine narzisstische Spiegelung, einer Art Selbstliebe! Diese Projektionen können in recht fatalen Spielchen (Erwachsenenspiele, so genannt nach Eric Berne) ausarten. Wenn der «geliebte» Mensch seine einst so schönen Attribute verliert (die Haare gehen ihm aus, werden grau oder der Bauch wird etwas zu dick für den eigenen Geschmack), dann baut man das gespiegelte Idealbild plötzlich zum erklärten Feindbild auf!?

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft?

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