Blicke hinter die Kulissen der Persönlichkeit

KettenWie eng Wahrnehmung und Denken miteinander verknüpft sind, wird üblicherweise nicht bemerkt. Denn das Bewusstsein ist in der Regel außer Stande, den Ablauf eines Erkenntnisprozesses mitzuverfolgen.

Heute sah ich auf der Fahrt zur Arbeit, die ich jeden Morgen mit dem Fahrrad unternehme, am Himmel einen kleinen dunklen Fleck. Innerhalb des kleinsten Zeitraums schaltete sich für mein Empfinden, zeitgleich mit der Wahrnehmung, der Gedanke an ein Flugzeug ein und verband sich mit dem Objekt. Was objektiv nichts anderes war als ein dunkler Fleck, wurde von mir sofort mit einem Begriff belegt. Ebenfalls praktisch zeitgleich stellte sich in mir das Gefühl „groß“ ein. Das heißt, ich empfand dieses Objekt am Himmel sehr groß, weil es von meinem Bewusstsein mit dem Gedanken „Flugzeug“ gekoppelt wurde und ich im Nu die entsprechenden proportionalen Verhältnisse konstruiert und interpretiert hatte. Ein Flugzeug am Basler Himmel ist sicher keine Seltenheit. Deshalb ist dieser Gedanke zunächst auch nicht abwegig. Schnell stellte sich durch die Art der Bewegung des Objektes heraus, dass es ein Vogel war und kein Flugzeug. Unmittelbar veränderte sich die Empfindung „groß“ um in „klein“.

Dies alles passierte in kürzester Zeit, das heißt im Bruchteil einer Sekunde. Alle diese Vorgänge in meinem Kopf geschahen zudem automatisch und ohne die Kontrolle meiner Selbst. Das Geschehen wäre völlig uninteressant in die Anti-Annalen meiner persönlichen Geschichte eingegangen, zusammen mit tausenden von ähnlichen Erlebnissen, die sich durch den Tag hindurch daran angeschlossen hätten, wenn nicht… ja was? Wenn dieser kleine Einblick nicht durch ein anderes, wacheres Bewusstsein erfolgen konnte, welches sich ganz unverhofft im Hintergrund einschaltete.

Die Abläufe von Wahrnehmung und Denken finden in der Regel im Dunkel des Unbewussten statt. Dabei schalten sich Vorgänge in das (Un-) Bewusstsein ein, die sich aus unserer Vergangenheit und aus den Gewohnheiten und Vorstellungen, welche wir, bis in die neuronalen Strukturen des Gehirns hinein, daraus gebildet haben. Dies zu bemerken ist für die meisten Gedanken dieser Art nicht möglich. Deshalb werden sehr oft auch Handlungen eingeleitet, die aufgrund solcher Wahrnehmung-Gedanken-Empfindungsketten erfolgen und dadurch nicht vollbewusst sein können.

Gewiss, nicht jeder hätte mit dem Objekt den Gedanken „Flugzeug“ verbunden. Manche hätten auch gleich den Vogel „gesehen“. Andere hätten schon gar nicht an den Himmel geschaut, oder wiederum andere hätten vielleicht an ein UFO gedacht. Je nachdem wie herum diese Ketten verbunden sind und welche Erfahrungen damit zusammenhängen, würde jeder und jede für sich etwas anderes darin sehen. Dies, obwohl es bestimmt Grenzen gibt, die das normale Verhalten überschreiten, zum Beispiel, wenn jemand mit dem dunklen Fleck den Begriff „Schwein“ verbunden hätte. Die aus den Erlebnissen gebildeten Interpretationen spielen eine ebenso wichtige Rolle und diese können durchaus bis ins Pathologische gehen. Der berühmte „Rorschach Test“ in der Psychiatrie und viele andere Wahrnehmungsphänomene, dokumentieren diesen Vorgang  deutlich.

Die meisten von uns würden jedoch kaum davon berichten können, was sich unbewusst ununterbrochen abspielt, weil sich solche Wahrnehmungen sofort wieder im Dunkel des Purgatoriums verlieren. Sie schaffen es meist gar nicht bis an die Oberfläche des Wachzustands.

Wie gesagt, allein auf der halbstündigen Fahrt von Weil nach Basel werden es vermutlich hunderte von solchen kleinen „Erlebnissen“ gewesen sein, die mir begegneten, ohne dass ich jetzt noch davon Kenntnis hätte. Einiges bleibt hängen. Meistens sind es Dinge oder Ereignisse, die eine kleine Schockwirkung hervorrufen, ein Auto, was von links auf uns zu fährt, oder sonst irgendwelche besonders auffälligen Dinge.

Unser waches Bewusstsein ist auf „Sensation“ und weniger auf „Intuition“ ausgerichtet. Alles andere als Sensation ist so langweilig oder mühsam, dass es nur schlafend oder träumend, wenn überhaupt, von uns wahrgenommen wird. Es wird nicht einmal bemerkt während dem das Auge darauf gerichtet ist. In den meisten Fällen hängen wir so „schauend“ irgendwelchen Gedanken nach, die für uns „wichtiger“ sind. Sie bilden eine Art Schleier, der sich vor das Auge schiebt und uns das Aufnehmen der Sinneseindrücke verbaut.

Was hat dies für Folgen? Es hat die Folge, dass wir uns, aus diesem Kontext heraus betrachtet, schwer vorstellen können, freie Menschen zu sein. Diese „Bewusstseinsketten“ haben einen unmittelbaren Bezug zu all den Dingen und Ereignissen, die uns jahrzehntelang als Persönlichkeit „gebildet“ haben. Aus solchen Erfahrungen wurden uns, nicht ohne Schmerzen, Urteile, Vorurteile, Meinungen, Ansichten förmlich „eingetrichtert“. Heute ist es ja ein Leichtes, dies auch mit wissenschaftlichen Methoden zu beweisen. Die Neurologie hat in den letzten Jahren viele Dinge bestätigt, die noch vor einigen Jahrzehnten als Hirngespinste irgendwelcher abgefahrener Esoteriker gegolten haben.

Es wäre fatal, wenn wir diesen Automatismen vollkommen ausgeliefert wären. Dann könnten wir in der Tat nicht mehr von „menschlicher Freiheit“ sprechen. Das ganze Rechtssystem müsste in den nächsten Jahrzehnten völlig neu überdacht werden, denn die Frage, wer die Verantwortung für unsere Taten übernehmen soll, wäre sehr komplex! Etwa so komplex, wie wenn wir die Rechtslage eines Wolfes beurteilen müssten, der ein Schaf gerissen hat.

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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