Warum ich keine Quadrate male…

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Wenn ich eine grosse, weisse Fläche vor mir habe, bin ich inspiriert, sie zu füllen. Irgendetwas in mir verspürt Lust, Farben zu nehmen, Flächen zu malen, Linien zu malen. Aber was ist dieses Irgendetwas, was mich leitet, mir Begeisterung einflösst, mich quasi mit Energie versorgt? Diese Frage stellte ich mir letzthin. Und ich fragte mich, warum ich eigentlich keine Quadrate male?

Verstehen Sie mich nicht falsch, es ging bei der Frage nicht explizit um Quadrate. Sie sind nur ein Synonym für vieles, was ich nicht male, nie malen würde, weil „es“ mich nicht lockt, nicht begeistert. Da ist es wieder, ein geheimnisvolles „es“, was mich lockt oder nicht, zu malen, kreativ zu sein, den Ton zu gestalten.

Deshalb soll das Quadrat nur als Beispiel für etwas stehen, was ich den „Verstand“ nenne. Denn ohne den Verstand werde ich niemals Quadrate malen können. Deshalb nicht, weil dieser Verstand mir sagt, wie die Form aussieht, die ich malen soll, dass sie rechte Winkel hat und vier gleichlange Seiten. Das müsste ich erst mal hinkriegen und dazu bräuchte ich den Verstand. Es braucht mathematische Intelligenz. Zudem würde das Quadrat einer vorgegebenen Idee entsprechen, der Idee, der Vorstellung: Ich male jetzt Quadrate… oder andere geometrische Formen oder auch andere vorgegebene Figuren, die ich mir zum Vornherein, bevor ich überhaupt den Pinsel berührt habe, in den Kopf gesetzt habe. Habe ich dann den Pinsel in der Hand, „weiss“ ich ja schon ganz genau, was zu tun ist! Es gibt keine andere Möglichkeit mehr. Was folgt, ist bestenfalls „Technik“, Beherrschung des Materials, des Werkzeuges. Jede Abweichung würde mich in eine Krise versetzen, weil es nicht ganz genau so aussieht, wie ich „es mir vorgestellt habe“.
Also bestünde die Kunst darin, sich etwas vorzustellen und es dann „ganz genau“ auf dem Papier, oder sonstwo, umzusetzen? Folgt man den Kunsthäusern der Gegenwart, müsste man bei sehr vielen Dingen davon ausgehen…

Quadrate malen hiesse also, zum Vornherein wissen, was ich male und es danach so gut wie möglich zu realisieren! Das ist ganz genau unser normaler Weg, zum Ziel zu kommen: Wir machen uns ganz viele Gedanken, setzen alles im Geiste zusammen bis „es stimmt“, oder haben ab und zu auch „Spontaneinfälle“, und schreiten dann zur Handlung über, entweder bewusst, wissend, was wir tun, oder eben spontan, aus dem Affekt usw.

Was bei mir im Alltag in der Regel auch so funktioniert, und manchmal durchaus sinnvoll ist, funktioniert beim Malen, beim modellieren usw., nicht mehr. Würde ich es genauso machen, so verginge mir definitiv die Lust dazu. Es gäbe nichts, was ich dem Endergebnis hinzufügen oder wegnehmen könnte, ich würde ganz und gar von einer Idee, von einer Vorstellung gelenkt und müsste dieser dienen, bis alles so ist, wie ich es mir vorgestellt habe.

Gerade hier setzt bei mir die Lust ein, den Verstand beim malen auszuschalten, die Vorstellungen ganz zurückzunehmen, ganz gegenwärtig zu werden, mit all meinen Sinnen, mit dem Denken und Fühlen, und einer anderen Stimme in mir zu gehorchen. Tiefer zu gehen, als dies der Verstand, die normale Intelligenz vermag. Dieses „Es“ wird dann aktiv, beginnt, mich zu leiten, in mich zu fliessen und mich zu führen. Ein Quadrat wird dabei niemals entstehen können, weil die Linien schon vom ersten Moment an eine andere, nicht vom Denken geleitete Richtung einnehmen. Meine Hand lässt sich jetzt nicht mehr vom Kopf her leiten, sondern beginnt, dieser „inneren Spur“ zu folgen. Auch die Flächen, die ich meistens bei grossen Bildern mit der Hand, mit Putzfäden, auftrage, beginnen innerlich zu vibrieren, diesem lebendigen Strom zu folgen, beginnen sich im Raum auszudehnen und zu füllen. Farben über Farben, Linien über Linien folgen so einem eigenen Gesetze. In guten Momenten bin ich dann erfüllt von einem hellen und klaren inneren Licht, einer Art Begeisterung und Freude, die nicht etwa träumt oder gar schläft, sondern noch bewusster ist, als sonst, noch bewusster, als der normale, alltägliche Verstand. Es entsteht das Gefühl eines Verschmolzenseins mit dem Bilde, mit den Farben, den Linien, den weissen Flächen. All dies dehnt sich sogar darüber hinaus und kann einige Stunden anhalten…

Solche Erlebnisse habe ich nie, wenn ich mir etwas bestimmtes vornehme und um die exakte Umsetzung meiner Vorstellungen ringe…

Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie…

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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