Machen Gesetze bessere Menschen?

Mann drückt Paragraph-SymbolIndividualismus wird oft mit Egoismus verwechselt. Letzterer verlangt nach einschränkenden Maßregeln, der erste die bedingungslose Freiheit, wenn es sie denn gibt. Die große Frage lautet: Führen Gesetze näher an die individuelle Freiheit des Menschen heran oder von ihnen weg? Und: Was bezwecken Gesetze eigentlich?

Ist der „ethische Individualismus“, wie Rudolf Steiner jene Geisteshaltung nennt, die den Menschen zur Freiheit führen soll, geeignet, sich über Gesetze und Richtlinien zu verwirklichen? Das heißt, anders gefragt: wird der sittliche Mensch durch die Gesetze besser – oder gar schlechter? Lässt sich die Frage vom Standpunkt eines „naiven Realismus“ überhaupt beantworten? Welch Drama steckt in der Beurteilung dieser Frage! Und wie existentiell ist sie, heute mehr denn je, geworden!

Der (fortgeschrittene) „naive Realist“ sagt: ich glaube nur an das, was ich sehe! Und ich sehe, wie sich die Menschen verhalten! Sie sind, leider, moralisch so labile Geschöpfe, dass sie ohne äußere Einschränkungen (Gesetze, Sittengebräuche, Normen usw.) masslos werden und ihrem Zerfall entgegen steuern würden. Wir können durch die Gesetze diesen Zerfall ein Stück weit aufhalten. Deshalb müssen wir besorgt sein, dass wir die Lücken immer dichter schließen und das System durch Kontrolle und einem “gesunden“ Misstrauen gegenüber diesen Kriminellen, „Freidenkern“ und Anarchisten, aufrecht erhalten. Dies dient dem Wohle aller! Ansonsten werden wir gnadenlos ausgenutzt. Es braucht dafür wohl keine Beweise! Du findest das Übel an jeder Strassenecke und auf den Titelseiten jeder Tageszeitung. Im besten Fall werden die Gesetze von einer demokratischen Mehrheit des Volkes bestimmt (dafür gibt es leider nur wenige Beispiele auf der Welt). Im schlechteren Falle durch ein paar hundert Parlamentarier (was der Norm eines “westlichen“ Staates entspricht). Und im allerschlechtesten Fall von einem Monarchen oder, vielleicht noch schlimmer, von einem Diktator (was faktisch leider noch die meist praktizierte Staatsform auf dieser zivilisierten Welt ist). In dieser Bandbreite bestehen die Entwicklungspotenziale. Mehr liegt nicht drin!

Da kann man nur sagen: ja, sicherlich, deine Analyse ist klar, sachlich und verständlich und, von deinem Standpunkt aus betrachtet, unausweichlich! Aber dann müssen wir auch nicht weiter über die Freiheit reden. Eine höhere Form der Freiheit als die des tun und lassen Könnens, was jeder und jede will zur Erlangung egoistischer Ziele, kann und wird es nicht geben – und letzteres ist ja wohl kaum erstrebenswert. Was übrig bleibt, ist das oben erwähnte „System“. Es garantiert einen relativen Frieden auf Erden. Wenngleich im besten Fall (dem der Volksdemokratie) immerhin ein Quäntchen Individualismus hängen bleibt, so kann er zumindest kaum ethisch genannt werden, sondern unterliegt der steten Gefahr einer riesigen Maschinerie von professioneller Gehirnwäsche durch Werbung, Marketing und Machtdemonstrationen der Regierenden und jenen, die es werden wollen.

Dann kommt der „metaphysische Realist“ auf die Bühne und sagt: hört mir zu! Die Gesetze sind doch niemals alles! So kann man keine „sittlichen Menschen erziehen“! Es gibt doch eine innere Stimme in uns, in jedem von euch allen, nenne sie die „Stimme des Gewissens“, „Gottes Stimme“ oder anders! Sie sagt uns, was richtig oder falsch, gut oder böse ist. Wir müssen nur lernen, auf sie zu hören, dann werden wir auch in rechter Weise handeln können!

Ja!
…aber die Stimme des Gewissens ist an deine persönliche Moral gebunden. Sie ist das Produkt, die Essenz deiner Glaubenssätze und Ideale, die du dir aus deiner Lebensgeschichte zusammen geschustert hast! Die Freiheit bleibt also auch hier auf der Strecke. Sie ist keine wirkliche Freiheit, sondern resultiert aus einem ewigen, reibungsvollen Kampf: dem Gewissenskampf mit dir selbst. Du bist ihm ausgeliefert bis ans Ende deiner Tage. Es bleibt dir keine Wahl, du kannst bestenfalls als kleines, elendes Würmchen des Kosmos in der Erde herumwühlen und so elendiglich krepieren.
Auch hier müssen wir kaum weiter über Freiheit diskutieren. Die egoistische Variante wäre, dass Du glaubst, du seist alleinig Gott selbst und somit das Zentrum der Welt! Dein Gewissen sei die objektive Wahrheit, nach der sich alle anderen Menschen zu richten haben!

Freiheit, die auf Kosten anderer erkämpft wird, nennt man Egoismus | Und damit sind wir wieder bei den Gesetzen angelangt. Anders ist keiner dieser Varianten beizukommen, als durch Gesetze, will man sich nicht in äußere Knechtschaft einzelner „Autonomen“ begeben. Zwar sind die Gesetze auch nicht zwingend objektiv und allgemein gültig, aber sie resultieren, wie wir gesehen haben, im besten Fall nicht nur aus wenigen oder aus einer Stimme (Monarchie, Diktatur), sondern aus der (vermeintlichen) Mehrheit. Zwar ist auch diese „Mehrheit“ oftmals ein Trugschluss, aber es genügt vorläufig, bei diesem Gedanken zu bleiben, denn auch aus ihr wird die Frage der Freiheit nicht befriedigend beantwortet werden können. Der Fokus wird nur immer wieder auf die äußeren Verhältnisse hingelenkt. Man bedenke die oftmals als „Gegenbeweis“ der Freiheitsphilosophie aufgeführten Beispiele eines Verbrechens als Ausdruck einer solchen “freien individuellen Handlung“. Es sei hier nochmals deutlich ausgesprochen: sie haben allesamt nichts mit der Individualität im genannten Sinn zu tun, sondern entspringen immer einem egoistischen Trieb und der ist das objektivste im Menschen!

Zu einer inneren, wirklichen Freiheit kommen wir auf diesem Weg nie. Eingeleitet wird dieser Schritt nur immer durch die ehrliche und konsequente Selbstbeobachtung. Im Akt der Selbsterkenntnis erst, durchschaut der Mensch die Motive seines eigenen Handelns. Dazu reicht die rein analytisch reflektierte Rückschau nicht aus, weil wir dadurch auf der Gedankenebene bleiben. Wir beurteilen (und verurteilten) dabei die eigene oder fremde Sachlage lediglich aus einem anderen Blickwinkel heraus – und umgehen dabei elegant das eigentliche Zentrum unseres Seins. Erst im gegenwärtigen Augenblicke vermögen wir sie anschauend zu verlassen.

Darauf kommt es an und nur darauf! Im Jetzt “erwischen“ wir die wahren Motive und zwar nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren! Erstere bestimmen den naiven Realismus, letztere den metaphysischen. In diesem Selbst beobachten haben wir den Standpunkt „erhöht“. Wir sind aus uns selbst herausgetreten. Heraus aus dem verhafteten, automatisierten Schablonenmenschen. An diesem haftet unser Ego. Der neu gewonnene Standpunkt vermag uns aus diesem zu befreien. Wir erleben jetzt eine neue Bewusstseinsqualität, die Intuition genannt werden kann! Die wahren, menschenfreundlichen Gesetze und Erfindungen sind allesamt aus solchen Intuitionen heraus entstanden! Durch die „Erhebung“ des Bewusstseins auf diesen Punkt, verbinden wir uns sozusagen mit der einheitlichen Welt, mit dem All-Einen, aus dem heraus solche bewusstseinsübergreifende Intuitionen entstehen, an denen alle Menschen mitwirken. Die Erfahrung bringt es zutage! Wir haben Anteil an einer gemeinsamen Welt eines großen geistigen Ganzen. Hier, und nur hier, wohnt die wahre Natur der Freiheit! Sie ist bedingungslos und ein im höchsten Grade sittlicher Zustand. Wäre der ganzen Menschheit diese Erfahrung präsent, oder besser: gegenwärtig, dann würden sämtliche Gesetze und Vorschriften hinfällig. Die Motive der Handlungen jedes Menschen entsprächen einem ethischen Individualismus (siehe „Philosophie der Freiheit“, Rudolf Steiner) und würden von jedes Menschen spezifischer Form, durch seine individuelle moralische “Technik“ verwirklicht und realisiert. So verwandeln wir den zweckbestimmten Naturmenschen zum freien Geistmenschen.

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Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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