Erkenntnis-Drama an der Schwelle

die-stille-lotusblüte-300x252Die Menschheit hat es über die Jahrtausende hinweg sehr weit gebracht. Die Entwicklung wurde in erster Linie oder sogar ausschließlich durch die Natur-Erkenntnis bestimmt. Das Eindringen in deren Gesetze, in die Tiefen der Materie war das allererste Anliegen und ist es heute noch.

Dabei hat man selbst in anderen Gebieten Konzepte entwickelt, die dem naturwissenschaftlichen Anspruch genügten. Sowohl in der menschlichen Psyche, wie auch bei paranormalen Phänomenen, ja sogar in esoterischer Forschung mit hochspirituellem Anspruch, schien man Kriterien gefunden zu haben, die diesen äußeren Gesichtspunkten genügen und sich an ihnen orientieren sollen. Man nannte dieses neue Gebiet diesem Umstand zum Trotz, die „Geisteswissenschaften“. Der Begriff trügt allerdings. Denn es war (und ist) nicht die Wissenschaft vom Geist damit gemeint, sondern bloß jene, von außen betrachtet, über den Geist. Und als „Geist“ bezeichnete man allgemein jenes Gedankengut, welches sich mit immateriellen Dingen beschäftigte. Also nicht das unmittelbar selbst erlebte. Was erforscht wurde und wird, sind in erster Linie die materiellen Abdrücke von nicht materiell erklärbaren Phänomenen. Das Vorgehen der naturwissenschaftlichen Methode hat sich dabei nicht wesentlich verändert. Es wurde lediglich auf jene phänomenologische, irgendwie undefinierbare Ebene verlegt. 

Das Bewusstsein selbst hat dadurch noch keine revolutionäre Entwicklung benötigt und auch nicht gefordert. Es blieb (und bleibt heute noch) im Wesentlichen unverändert (materialistisch). Das „Letzte“, die entscheidende Quelle allen Wissens, wurde nie herausgefordert, sondern, trotz dessen „Gebrauch“, vergessen: nämlich das Denken selbst!
Die von mir hochverehrte Hedwig Greiner-Vogel schrieb in ihrem Buch „Erkenntnisdramatik an der Schwelle“ in Anlehnung an Steiners „Philosophie der Freiheit“: folgendes:
„Die Natur ist am Ende ihrer Entwicklung angelangt… mit dem Neubeginn hat der Philosoph das absolut Letzte als sein erstes anzusehen… Dieses absolut Letzte, zu dem es die Weltentwicklung gebracht hat, ist aber das Denken.“
Dieses Denken kann aber nicht erfasst werden, indem man über es selbst nur nachdenkt! Denn in diesem über die Dinge Nach-Denken bleibt man stets außerhalb des Wesentlichen. „Das Bedeutende ist, dass hier das Denken als Tatsache, als Prozess, als Geschehen wichtig genommen wird. Der Wert eines Wirklichen wird ihm beigemessen.“ – „Hier ist der Mensch Schöpfer einer Tatsache, die ohne sein Zutun nicht vorhanden wäre.“ – „Wir halten dabei das Weltgeschehen „am Zipfel“. Der Mensch ist nicht ausgeschlossen… sein eigenes Geistiges muss ihm Handhabung bieten, um zum Geistigen in der Welt zu kommen. Aber in seinem eigenen geistigen Tätigsein, das er beobachtet, wächst er über sein Ich, das von der Welt getrennt war, hinaus zu dem Ich, das mit der Welt eins ist.“

Es ist genau dieser Vorgang, auf den Rudolf Steiner in der genannten „Philosophie der Freiheit“ sein Augenmerk gelegt hat. Damit hat er die Philosophie quasi an ihr Ende gebracht! Bisher hatte man immer – in Absehung des Denkens selbst, nur immer über die Dinge der Welt philosophiert – und eben nach-gedacht. Man hat also mit einem spezifisch menschlichen Werkzeug gearbeitet, ohne dieses selbst zu bemerken, dessen Objektivität oder Subjektivität zu hinterfragen. Das aber ist das Wesentlichste! Denn die Quelle ist jenseits von Objekt und Subjekt! Sie selbst (die Quelle) kreiert diese Begriffe und stellt sie als Wahrheiten in den Raum. Sie sagt zu sich selbst, sie sei „subjektiv“ und jenes Ding dort sei „objektiv“. Aber auch diese Begriffe sind ja nur Produkte seines Denkens! An diesem Punkt scheitern die meisten philosophischen Konzepte! Mit dem eigenen Denkakt werden alle Dinge dieser Welt „beleuchtet“ und betrachtet, die „Objekte“, selbst jene der menschlichen Psyche und gleichzeitig irgendwelche mysteriöser Phänomene. Das „Licht“ aber, von dem aus diese Objekte beleuchtet werden, bleibt normalerweise ungesehen. Es ist einfach da, wirkt aber „scheinbar“ aus einem dunklen Hintergrund. Man hinfragt es nicht. Selbst wenn man über dieses „innere Licht“ wiederum nachdenkt, so tut man es nur immer wieder mit einem neuen Licht. Man verändert sozusagen einfach den Standpunkt ein wenig. Damit hat man das Licht selbst (also das Denken) wieder nicht erfasst. Es entschlüpft einem sozusagen jedesmal wieder durch immer neue Gedanken (und Gedankenkonstrukte)! Hier erst wird man sich des Erkenntnis-Dramas bewusst, an welchem wir sonst keinen Anteil haben, obwohl es sich in jeder Sekunde in uns vollzieht. Damit aber befinden wir uns an einer Schwelle!

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Hedwig Greiner-Vogel schreibt: „Hier findet die plastische Umstülpung (im Geiste) statt. Bisher setzte das Denken ein, wenn eine Beobachtung im Bewusstseinshorizont erschien (also ein Objekt). Die eigene Tätigkeit richtete sich nur auf das Objekt. Warum geschieht dies? Weil das Objekt bedrückend wirkt (es beeindruckt) und in der Seele ein Bedürfnis erweckt, an dem der Gegensatz zur Welt schmerzlich erlebt wird. Es muss der Zustand der Befriedigung herbeigeführt werden.“ Hedwig Greiner-Vogel erkennt, dass dieser Akt nur durchbrochen werden kann, indem man den ganzen Erkenntnisprozess erst zum Objekte macht. „Der nächste Schritt bedeutet, diesen ganzen Prozess zum Objekt der Beobachtung zu erheben.“ Dadurch, sagt sie, entstehe eine neue Spaltung. Die erste Spaltung entstand ja bereits mit dem alten Bewusstsein, welches Ich und Welt immer voneinander getrennt wahrgenommen hat. „Die Umstülpung tritt dadurch ein, dass durch einen Willensentschluss das Objekt der Beobachtung hier erst hervorgebracht werden muss, damit dann ein neuer Denkvorgang einsetzen kann. Im gewöhnlichen Zustand folgt auf die Beobachtung das Denken. Im „Ausnahmezustand“ muss zuerst das Denken auftreten, um dann zum Gegenstand der Beobachtung zu werden. Hier ist der aktive Pol meiner Tätigkeit.“

Hedwig Greiner-Vogel fragt dann, ob man denn in dieser Weise nicht bezweifeln könne, ob das Denken wirklich mit dem Rätsel der Beobachtung fertig wird und man nicht ganz gut darauf verzichten könne. Sie findet allerdings diese Fragestellung schon falsch, denn: „Das Denken ist eine Tatsache. Aber diese Frage wird gar nicht erörtert. Sondern die grosse geistige Wende tritt ein, die Erhöhung der Rangordnung im Menschen durch die geniale Wendung: Das Denken selbst zum Gegenstand der Beobachtung machen. Damit versetzt sich der Mensch in den „Ausnahmezustand“. Er wendet seinen Blick auf etwas, von dessen Zustandekommen er die allersicherste Erfahrung hat, das er aber in seinem Wert und seiner Bedeutung im gewöhnlichen Bewusstsein nicht beachtet… – …in der ganzen Geschichte des menschlichen Denkens ist gedacht worden, jedoch ohne den „Ausnahmezustand“ herzustellen. Es ist gedacht worden in Begriffen und Ideen, zum Beispiel Ursache – Wirkung, Sein – Werden und so weiter. Es bedarf einer geistigen Wendung, die in dieser Form bisher noch nicht vollzogen wurde: etwas zum Gegenstand der Beobachtung zu machen, das ganz und gar unsere Tätigkeit ist. Man muss sich dabei auf einen Standpunkt stellen ausserhalb seiner selbst, man muss selbstlos sein: „…sich selbst als Fremder gegenüberstehen“. Sich selbst im Dualismus erleben, ein Doppelbewusstsein entwickeln.“

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Urs Weth, „Selbst-Reflexion als soziale Kernkompetenz“ – „Ursli und der Traum vom Schiff“, Kinderbuch… – „Lebendige Prozesse“, Fachbuch über Kunsttherapie… und jetzt neu auch eines über Anthroposophie… Glaube oder Wissenschaft? und über Kunst – ein kreatives Thema… und noch ein Kunstbuch mit dem Titel: Form-Lust

Veröffentlicht von

weth

1956 in der Schweiz geboren; Autor, Bildhauer, Werklehrer, Architekt und früher einmal Hochbauzeichner und Maurer...

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